Feministische Perspektiven auf die Corona-Krise

Corona und linke Kritik(un)fähigkeit Teil 10: Zum 8. März Frauen*kampftag

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Frauen sind von der Coronakrise besonders betroffen:

1. Was passiert auf dem Arbeitsmarkt?

Die Arbeit von Frauen ist wichtig, sie halten den Laden am Laufen, das wurde in der Pandemie sehr deutlich. Ihre Arbeit wurde als „systemrelevant“ bezeichnet, trotzdem ist sie häufig schlecht bezahlt. Sie haben täglich teils engen Kontakt zu vielen Menschen und damit ein erhöhtes Infektionsrisiko- durch die Notbetreuung der Kinder erhöhte sich das Risiko noch. Sie mussten noch mehr arbeiten. Eine Aufwertung der Berufe fand nicht statt. Krankenpflege (Frauenanteil 80 Prozent), Altenpflege (Frauenanteil 83 Prozent, Quelle jeweils statistisches Bundesamt), Verkauf im Lebensmitteleinzelhandel (Frauenanteil 73 Prozent) und Beschäftigte in der Kinderbetreuung (Frauenanteil 92 Prozent, Quelle jeweils Bundesagentur für Arbeit).

Die Gehaltsunterschiede zwischen den Geschlechtern haben sich verringert, so aus Mitteilungen der Hans- Böckler- Stiftung. Aber warum? Im ersten und zweiten Lockdown wurden auch viele Männer erwerbslos oder sind zur Kurzarbeit genötigt worden, was auch für sie Gehaltseinbußen bedeutete. Bei der offiziellen Arbeitslosenzahl gibt es keine großen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Aber die Arbeitslosenstatistik erfasst nicht alle, die in der Krise ihren Job verloren haben, so die verloren gegangenen Minijobs von Frauen. Die ersten Entlassungswellen im Zuge der Coronapandemie betrafen vor allem Sektoren, in denen viele Frauen arbeiten – wie Einzelhandel, Gastgewerbe und Tourismus. Entweder bekommen Frauen kein Kurzarbeitergeld, weil sie keine Arbeitslosenversicherung gezahlt haben, oder es ist nur ein Armutslohn, der kaum zum Begleichen der Mieten und Lebenshaltungskosten reicht.Kurzarbeit und Erwerbslosigkeit wirkt sich bei Frauen »häufig negativer« aus, wofür es zwei Gründe gibt: Erstens hängt das Kurzarbeiter- und Arbeitslosengeld vom Nettoeinkommen ab, das jedoch bei vielen verheirateten Frauen niedriger ausfällt – wegen der in der Regel hohen Steuerabzüge im Rahmen des Ehegattensplitting. Zweitens erhielten Frauen seltener eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes, weil sie nicht in tarifgebundenen Betrieben arbeiten.

Frauen lohnarbeiten in der Corona- Krise z.T. weniger. Vor Ausbruch der Pandemie arbeiteten männliche im Schnitt zehn Stunden mehr als weibliche Erwerbstätige mit betreuungsbedürftigen Kindern, im Frühjahr 2020 wuchs die Differenz auf zwölf Stunden, im Spätherbst lag sie noch bei elf Stunden. Eine ungewünschte Teilzeit könnte dauerhaft sein, denn für die sogenannten Arbeitgeber signalisierten kürzere Erwerbsarbeitszeiten aus familiären Gründen oftmals ein geringeres Arbeitsengagement. Das kann negative Folgen für den weiteren beruflichen Werdegang haben- wie geringere Löhne, weniger Weiterbildungschancen und Aufstiegsmöglichkeiten.

2. Was passiert in den Familien? Erleben wir einen patriarchalen Rollback in der Corona- Krise? Eine Re-Traditionalisierung der Geschlechterrollen?

Die Coronapandemie festigt das Patriarchat, die klassische Rollenverteilung wird weiter zementiert. Die Last der Maßnahmen hängt an den Frauen. Die Kinderbetreuung, Home Schooling, Pflege von Familienmitgliedern und Haushaltstätigkeiten lasten überwiegend auf ihren Schultern. Weil die Männer oft ein höheres Einkommen haben, und die Paare es sich anscheinend nicht anders leisten können, so eine häufige Begründung. Frauen sind neben der Erwerbsarbeit dann auch für die Sorgearbeit zuständig. Sobald Kindertagesstätten und Schulen geschlossen sind, die Betreuungsmöglichkeiten also nicht mehr gegeben sind, müssen die Familien entscheiden, wie sie Erwerbs- und Sorgearbeit untereinander aufteilen. Sobald die Kinderbetreuung mit einer stärkeren beruflichen Einschränkung einhergeht, fallen die Familien schnell in traditionelle Muster zurück. Väter übernahmen während der Krise nur dann mehr Kinderbetreuung, wenn ihre Partnerinnen mehr Geld als sie verdienen oder in einem systemrelevanten Beruf arbeiten.

Unbezahlte Sorgearbeit wird überwiegend von Frauen übernommen. Dafür arbeiten Frauen häufiger in Teilzeit und zahlen dadurch weniger in die Altersvorsorge ein. Zudem gehören viele Berufe der bezahlten Sorgearbeit, in denen mehrheitlich Frauen tätig sind, zu den schlechter bezahlten, beispielsweise Sozial- und Pflegeberufe oder Berufe im Reinigungsgewerbe.

Mit dem Existenzdruck, der Isolation, der eingeschränkten Bewegungsfreiheit und steigendem Alkoholkonsum nimmt in den Familien auch die häusliche Gewalt zu. Das eigene Zuhause ist dann der gefährlichste Ort für Frauen. Und auch wenn sich im öffentlichen Raum weniger Menschen aufhalten, sind Frauen weniger geschützt. Oftmals wurden Beratungsstellen oder auch Frauenhäuser geschlossen, die Frauen waren den Männern noch mehr ausgeliefert. Weltweit entstehen durch Verdienstausfälle für viele Familien eine finanzielle Notsituation, die in extremen Fällen zu Menschenhandel, Zwangsprostitution oder Zwangsheiraten führt.

3. Was passiert mit den Alleinerziehenden?

Alleinerziehende treffen Schul- und Kitaschließungen besonders hart, sie können die Arbeit nicht aufteilen. In der Corona- Krise tragen Alleinerziehende eine doppelte Last- durch Kinderbetreuung und durch wegbrechendes Einkommen. Wenn sie ihre Kinder selbst betreuen müssen, können viele nicht arbeiten. Mehr als jedes fünfte Kind lebt in Armut, viele in Alleinerziehenden- Haushalten. 90% der ca. 1,5 Millionen Alleinerziehenden sind Frauen. Fast jede fünfte Familie ist ein Alleinerziehendenhaushalt. 2,13 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren wachsen in alleinerziehenden Familien auf.

Alleinerziehende haben ein besonders hohes Armutsrisiko. 2019 wurden laut Statistischem Bundesamt 42,7 Prozent der Alleinerziehenden als armutsgefährdet eingeschätzt. Laut Bundesagentur für Arbeit waren im September 2020 mehr als die Hälfte der Haushalte im »SGB-II-Leistungsbezug« Alleinerziehendenhaushalte (52,2 Prozent). Dabei arbeiten Alleinerziehende viel öfter Vollzeit als Ehefrauen. Viele sind Hartz IV- Aufstocker*innen. Die Hälfte der Alleinerziehenden bekommt keinen Kindesunterhalt vom zumeist Vater. Und was ist, wenn Alleinerziehende krank werden?

4. Was passiert mit anderen marginalisierten Frauen und queeren Menschen?

Viele leiden unter psychischen Krisen. Gerade Alleinerziehende, Geflüchtete, Wohnungslose und Inhaftierte sind betroffen. „Bei 23 Prozent der 36-bis 45-Jährigen wird eine seelische Störung diagnostiziert- doppelt so häufig wie bei gleichaltrigen Männern.“ Bei Frauen werden häufiger Depressionen diagnostiziert als bei Männern.

„Besonders häufig leiden queere Menschen an Depressionen: Bei ihnen wird diese Diagnose doppelt so oft gestellt wie bei der restlichen Bevölkerung, wie erstmals eine Studie des Berliner DIW und der Uni Bielefeld für Deutschland zeigt. Internationale Untersuchungen bestätigen dies und zeigen außerdem ein fast sechsmal höheres Suizidrisiko bei transgeschlechtlichen Jugendlichen. In einer Befragung des Deutschen Jugendinstituts gaben queere Jugendliche an, dass Ausgrenzung in Schule und Familie, Beleidungungen und Gewaltandrohungen auch heute noch zu ihren Alltagserfahrungen gehören.“ (Berliner Morgenpost 5.3.2021)

Geflüchtete Frauen müssen aufs Engste in Massenunterkünften leben. Besonders in isolierten Sammellagern gibt es keinen ausreichenden Schutz vor sexualisierten Übergriffen und vor der Krankheit. „Wer keinen deutschen Pass hat, bekommt oft die schlechter bezahlten Jobs. (…) Zudem kommt es zu Benachteiligungen bei der Besetzung begehrter Stellen: So zeigen Untersuchungen des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, dass Bewerbungen von Schwarzen und muslimischen Menschen deutlich häufiger abgelehnt werden als vergleichbare von Konkurrent*innen.“ (Berliner Morgenpost 5.3.2021)

Frauen sind auf besondere Weise von Obdachlosigkeit bedroht. Manche verlieren ihre Wohnung, wenn die Rente nicht reicht oder eine Beziehung zerbricht. Häusliche Gewalt ist ein Grund, warum Frauen ihre Wohnung verlieren, die unsichere Wohnsituation vieler Frauen ein weiterer Grund. Couchsurfing ist ein bekanntes Phänomen bei wohnungslosen Frauen. Oft ist von verdeckter Obdachlosigkeit die Rede. Das Übernachten bei Bekannten schützt die Frauen vor Übergriffen in der Öffentlichkeit. Manche Frauen prostituieren sich, um ein Bett für die Nacht zu haben. Obdachlose und wohnungslose Frauen sind von Gewalt besonders bedroht.

Eine Sozialarbeiterin sagt: „Ich kenne viele wohnungslose Frauen, denen sieht man das gar nicht an. Die würden niemals auffallen und die sind auch sehr bedacht darauf. Auch die Würde zu bewahren, darum geht das auch. Ich glaube, bei Frauen ist dieses Bedürfnis noch viel größer.“ (Deutschlandfunk Kultur 7.1.2020)

Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe besagen, dass es in Deutschland mindestens 59.000 wohnungslose Frauen gibt. Tendenz steigend, auch die Zahl der älteren Frauen ohne Obdach steigt. Oftmals scheuen sie den Gang zu den Ämtern.

5. Was passiert mit älteren alleinstehenden Frauen?

Viele jener Frauen, die bezahlte und unbezahlte Sorgearbeit geleistet haben, landen in der Altersarmut. Frauen im Rentenalter sind oftmals durch jahrelange Teilzeitarbeit, Erziehungszeiten ohne Einkommen und Tätigkeiten im Niedriglohnsektor besonders von Armut betroffen.

Neben dem Armutsrisiko haben sie auch noch ein hohes Infektionsrisiko. Es sind überwiegend Frauen, die zur Corona- Risikogruppe der über 80-Jährigen gehören. 2018 waren 62 Prozent der über 80-Jährigen und 74 Prozent der über 90jährigen Frauen. Für sie ist das Corona-Virus besonders gefährlich, da es in dieser Altersgruppe häufiger zu schweren Krankheitsverläufen führt. Bei den unter 90jährigen sterben allerdings mehr Männer als Frauen an Covid19.

Exkurs zur Altersdiskriminierung von Frauen, um sichtbar zu machen, wie es älteren Frauen im Kapitalismus gehen kann. Es ist nicht individuelles Versagen, wenn sie allein leben, sondern ein strukturelles Problem. Der nächste Abschnitt bezieht sich hauptsächlich auf heterosexuelle Frauen.

Ab dem 45. Lebensjahr nimmt die Zahl der alleinlebenden Frauen deutlich zu, zwischen dem 55. und 75. Lebensjahr steigt der Anteil rasant. Im Alter stehen viele Frauen ziemlich allein da, von Altersdiskriminierung der Frauen ist in der Gesellschaft oftmals keine Rede. US-Glücksforscher fanden heraus, dass sich Männer ab dem 48. Lebensjahr durchweg glücklicher als Frauen- in allen Lebensbereichen- fühlten. „Währenddessen wird der weibliche Teil der Gesellschaft immer trauriger, je weiter die Zeit voranschreitet.“, so Bascha Mika in ihrem Buch „Mutprobe“. Im Alter ist es selbstverständlich, dass sich Männer viel jüngere Frauen nehmen. Eva Illouz betont, dass Männer daher aus einem wesentlich größeren Angebot auswählen können als Frauen. Bascha Mika schreibt: Die Ängste der Frauen vor dem Alleinsein sind gesellschaftlich erwünscht und werden individualisiert durch die „Bewußtseinsindustrie“, „ansonsten ginge ihr ja auch ein lukratives Geschäft verloren. Von dem Moment an, wo wir ein Problem als gesellschaftliches erkennen, gehen wir ja wohl eher auf die Straße als in eine Therapie. Auf der Couch wird vielleicht unser Ich gestärkt- wogegen überhaupt nichts einzuwenden ist. Aber sozialer Druck entsteht woanders.“, so Bascha Mika.

Bei den Frauen hängt das „Grauen vor dem Älterwerden am Faktor Mann“. „Denn der Beziehungsmarkt für Frauen in den mittleren Jahren ist ziemlich hart. (…)

Hier herrschen soziale Formen der Paar-Organisation, die so gnadenlos kapitalistisch und gleichzeitig so reaktionär sind, dass man weinen- oder das System in die Luft jagen möchte.“ schreibt Bascha Mika. Vielen Männern scheint dagegen das Älterwerden nicht zu schaden. Im Gegenteil die Jahre können ihnen gut tun.

„Sie bedeuten ein Surplus: an Persönlichkeit, Ausstrahlung, Sicherheit und wenn`s gut läuft, sogar an Geld und Macht.“, so Mika. Meines Erachtens gibt es natürlich auch andere Männer, die mit den Jahren regelrecht untergehen, zum Beispiel durch Alkoholismus.

Ältere Frauen werden dagegen unsichtbar, schreibt Mika: „Unsichtbarwerden als Inbegriff weiblicher Demütigung. (…) Wo Frauen als Ware betrachtet werden, unterliegen sie auch Warenstandards. (…) Als Ware haben Frauen ein Haltbarkeitsdatum und wenn dieses abläuft (…) verfällt ihr Wert als Konsumgut.“ Mit dem Altern des Körpers geht ein Wertverlust einher. Die Medien-, Kosmetik- und Schönheitsindustrie verdient prächtig an vielen Frauen. 1991 beschrieb die US-amerikanische Autorin Naomi Wolf den „Mythos Schönheit“. Er lebe, „weil hinter ihm handfeste wirtschaftliche und politische Interessen stecken und die Absicht, Frauen unter Kontrolle zu halten.“

Altersdiskriminierung ist vor allem für viele Mittelschichtsfrauen ein wichtiges Thema, da sie aufgrund ihres Alters sogar in der Arbeitswelt und ihrem sozialen Status angegriffen werden. Genügt die Frau nicht mehr den Vorstellungen von Attraktivität, wird auch ihre Arbeit schlechter bewertet. Viele Frauen fürchten im Alter Nachteile im Job. Marginalisierte Frauen haben noch andere Probleme.

Es gibt ein Klassensystem unter Frauen, jene gut qualifizierten Frauen fast ohne Unterbrechung und später mit guter Rente und den anderen, zum Beispiel viele Alleinerziehende, Niedriglöhner*innen usw. Letztere bekommen oft die Rechnung präsentiert, wenn sie im Alter alleinstehend sind. Nämlich Altersarmut. Schon aus ökonomischen Gründen ist ein Mann für viele Frauen auch heute noch die letzte Rettung. Wird die ökonomische Abhängigkeit der Frauen von den Männern wieder größer? In dem Buch „Kein Ruhestand“ von Irene Götz kommen bis auf eine Frau bezeichnenderweise nur alleinstehende ältere Frauen aus München zu Wort. Viele sind geschieden, Männer waren für sie zumeist Belastungsfaktoren. Heute leben sie in Altersarmut.

Vor Corona hatten wir, paar Frauen in unserem Kiez, ein Frauenfrühstück in einem Nachbarschaftsladen organisiert. Damals war ich auch auf einer Frauenstreik-kundgebung zum 8. März 2019 am Hermannplatz in Berlin- Neukölln. Es war Feiertag. Viele junge Frauen waren da, nur noch ein, zwei ältere Frauen habe ich dort gesehen. Ich frage mich, warum werden ältere Frauen kaum erreicht? Warum sind in der feministischen Bewegung viele junge Frauen, wo sind die Älteren? Der Masse der Rentner*innen wurde auch vergessen in „Was ist dein Streik?“

Literatur zum Exkurs Altersdiskriminierung:

Naomi Wolf, Mythos Schönheit, Hamburg 1991/ Eva Illouz, Warum Liebe wehtut. Frankfurt 2012/ Bascha Mika, Mutprobe. Frauen und das höllische Spiel mit dem Älterwerden. München 2014/ Irene Götz, Kein Ruhestand. Wie Frauen mit Altersarmut umgehen. München 2019

Veranstaltungsreihe: Corona und linke Kritik(un)fähigkeit seit dem 7.12. 2020

Weitere Infos :

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Corona und linke Kritik(un)fähigkeit (Fortsetzung): Input am 14.12.2020

Zunächst ein kurzer Rückblick auf die erste Veranstaltung mit einigen Aussagen von Elisabeth Voss, Gerhard Hanloser und Peter Nowak.

– Soziales und die klassenpolitische Dimension kamen bei den Corona- Demos nicht vor. Angst im Kapitalismus wurde dort nicht thematisiert. (Zu sozialen Folgen und Angst werde ich noch einiges sagen.)

– Elisabeth hat die Privatisierungspolitik auch im Gesundheitswesen angesprochen und die Situation der Kleinunternehmen und Selbständigen.

– Die Linke hat den historischen Moment verpasst, gegen Staat und Kapital zu protestieren.

– Wichtige Themen der Linken wurden auf der Straße nicht verhandelt.

– Ein Großteil der Linken hat in der Corona-Zeit wenig kapitalismuskritische Akzente gesetzt. Es wurden zu wenig Fragen gestellt.

– Die Linke hat den Diskurs der Mainstream-Medien übernommen. Es braucht eine linke Debatte.

– Der Fokus der Linken richtet sich gegen die Rechten und die sog. Coronaleugner.

– Was ist eigentlich mit den Gewinner*innen der Krise? Wie werden die Gelder gerade verteilt und wer wird das danach bezahlen? (Das Bündnis „Wer hat der gibt“ ist da dran.)

– Die Linke hat nur Szenedemos auf die Beine gebracht, keine Debatte.

Lobenswert möchte ich die Online-Gespräche Ausnahme&Zustand der Rosa-Luxemburg-Stiftung hervorheben. Und ich möchte noch etwas hinzufügen: Eine Alternativendiskussion gab es kaum. Wenn nicht der Paritätische und Tacheles e.V. gewesen wären, hätten die Einkommensarmen keine Lobby gehabt. Diese haben Forderungen aufgestellt. Von Linken kam fast nichts.

Wie ist es mir persönlich ergangen?

Ich war persönlich hin und her gerissen zwischen Maßnahmenbefürworter*innen und Kritiker*innen, zwischen Ängstlichen, persönlich Bedrohten, Risikogruppen und Corona- Minimierer*innen,

hin und her gerissen zwischen zahlreichen negativen Folgen (Krankheitsgefahr, viele Tote, Vergrößerung der globalen Armut, Zunahme häuslicher Gewalt, Einkommensverlusten usw.) und zwischen einigen positiven Effekten wie Entschleunigung/ Pause für das Klima/ Selbstbesinnung, ich bin mal zur Ruhe gekommen.

Ich finde es schwierig, sich als Linke in der Corona-Krise zu positionieren. Aber wir brauchen eine Debatte. Es ist ein Abwägen zwischen Infektionsschutz, Schutz der verletztlichen Gruppen auf der einen Seite und dem Schutz der sozialen Existenz sowie der Grundrechte auf der anderen Seite. Linke sollten alles auf dem Schirm haben.

Und natürlich ist es jetzt wichtig Menschenleben zu retten. Alle drei Minuten stirbt hier ein Mensch mit Covid-19. 1,6 Millionen Tote durch Corona soll es weltweit geben. Aber eine Frage bleibt für mich: Haben sich die Herrschenden im Kapitalismus jemals für Menschen interessiert, die im globalen Süden massenhaft an Hunger sterben, die aufgrund deutscher Waffenexporte getötet werden, die im Mittelmeer ertrinken oder die als Obdachlose hier verelenden und verrecken. Gerade jetzt, da die soziale Infrastruktur für Obdachlose wegbricht.

Zu den sozialen bzw. ökonomischen Folgen der Maßnahmen

Zunächst etwas zu den Gewinner*innen der Corona-Krise.

Krisengewinner sind vor allem die Digitalwirtschaft, Pharmaindustrie, Lebensmittelhandel und Versandhandel, natürlich haben die Arbeiter*innen davon nichts. Die Paketboten z.B. machen Überstunden und werden mies bezahlt.

Der Biontech-Gründer hat mittlerweile ein geschätztes Vermögen von fünf Milliarden Euro. Den Großaktionären Klatten und Quandt wurden mehr als 750 Millionen Euro Dividende ausgezahlt, während der Staat Kurzarbeitergeld für VW zahlte. Dem Klientel aus dem Mittelstand und Konzernen wurden massiv Coronahilfen zugebilligt, Umsatzausfälle rentabler Unternehmen gleicht die Bundesregierung aus, sogar Konzerne wie TUI und Lufthansa bekommen staatliche Hilfen.

Das Geldvermögen der privaten Haushalte stieg auf ca. 6,63 Billionen Euro, natürlich sehr ungleich verteilt. In der Pandemie kamen zu den 2,1 Millionen Millionären in Deutschland weitere 58 000 dazu.

Während die Einen mit Geld ruhig gestellt werden, werden Einkommensarme in der Corona-Krise dagegen ignoriert.

Eines wird überhaupt nicht thematisiert. Das was gerade für viele Menschen ein Ausnahmezustand ist, ist für viele Einkommensarme seit langem Normalzustand und Alltag. Sie können nicht oder kaum reisen, sie können nicht in Restaurants oder teure Konzerte gehen und ähnlichem, was viele aus der Mittelschicht jetzt schmerzlich vermissen.

Ein Hauptaugenmerk der Linken sollte auf der Situation der Einkommensarmen liegen. Das sind laut Armutsbericht des Paritätischen 13 Millionen Menschen. Nie ist die Verachtung gegenüber den Niedriglöhner*innen, Langzeiterwerbslosen, Wohnungslosen, Geflüchteten und Migrant*innen, Armutsrentner*innen, armen Selbständigen, Verschuldeten (fast 7 Millionen), vielen Menschen mit Behinderung und Alleinerziehenden usw. so deutlich geworden wie in der Corona-Krise. Sie wurden weitestgehend ignoriert.

Dabei sind sie besonders gefährdet:

1) Sie haben ein erhöhtes Infektionsrisiko durch sozial bedingte Vorerkrankungen. Armut macht krank. Aus ersten Untersuchungen der AOK Rheinland/ Hamburg ist bekannt, dass Klassenzugehörigkeit klare Risikofaktoren beim Krankheitsverlauf von Covid19 sind. Es gibt schwere Verläufe bei den Betroffenen.

2) Einkommensarme haben oft katastrophale Arbeitsbedingungen.

Das ist besonders in der Fleischindustrie bekannt geworden. Über 7 Millionen Arbeitsplätze gibt es im Niedriglohnsektor. Bei Minijobs und Leiharbeit gibt es massive Jobverluste. Befristete Verträge laufen aus. Die Corona- Helden im Einzelhandel und Gesundheitswesen sind beim Einkommen abgehängt.

Auch Solo-Selbständige, zum Beispiel aus der Veranstaltungswirtschaft, sind besonders von der Krise betroffen. Kurzarbeitergeld für Beschäftigte in Gastronomie reicht nicht zum Überleben. Dazu kommt noch das Infektionsrisiko auf Arbeit, das kein Thema ist. Viele stehen unter Druck, weil sie massiv Einkommenseinbußen haben. Selbst Kinder in den Familien merken das. Der Mindestlohn wird um 15 cent zum 1.1.2021 erhöht. Die Löhne für Geringverdiener*innen wurden nicht erhöht, aber Arbeitszeiten für „systemrelevante“ Berufe.

3) Lockdowns treffen Einkommensarme härter

Sie können sich nicht ins Homeoffice zurückziehen, wobei auch das Homeoffice Probleme bringt. Auch das kann prekär sein. Jobcentermaßnahmen wurden ausgesetzt, der Zuverdienst fiel weg. In Behindertenwerkstätten wurde der magere Zuverdienst gekürzt. In Deutschland ist die offizielle Arbeitslosenzahl noch gering.

Viele Minijobber und Solo-Selbständige, die ihren Job verloren, kommen darin nicht vor. Im November waren es 2,7 Millionen Erwerbslose, mehr als eine halbe Mio. mehr als im Vorjahresmonat. Im September gab es für 2,22 Mio. Kurzarbeitergeld. Vom 1.-25.11. kamen mehr als eine halbe Mio. Beschäftigte neu in Kurzarbeit, 1/3 davon im Gastgewerbe.

Zum Vergleich: Laut Oxfam sind während der Pandemie weltweit 400 Millionen Jobs verloren gegangen. In den USA breitet sich der Hunger aus, Experten befürchten, dass bald 50 Millionen Menschen nichts mehr zu essen haben.

4) Einkommensarme haben beengte und hygienisch bedenkliche Wohnverhältnisse z.B. in Gemeinschaftsunterkünften.

Gerade Menschen in Notunterkünften, in Gemeinschaftsunterkünften, wie Wohnungslose, Geflüchtete und Wanderarbeiter*innen sind besonders bedroht.

Laut Statistischem Bundesamt leben mehr als 6 Millionen Menschen in überbelegten Wohnungen.

5) Spaltung: Alg II- Bezug für Corona- Geschädigte wurde erleichtert

Harald Thome spricht von einer Zweiklassengesellschaft der Erwerbslosen. Die guten Erwerbslosen, die nichts für ihre Situation können, weil Corona schuld ist. Sie hatten in den Jobcentern massiv Erleichterungen, nur 5 Seiten Neuantrag, Mieten und Heizkosten in voller Höhe, Sanktionen ausgesetzt, weil keine Meldetermine, Vermögensprüfung erst bei sehr hohen Beträgen, insgesamt eine Entbürokratisierung, die zu begrüßen ist. Die schlechten Langzeitarbeitslosen waren dagegen auch schlechter gestellt. Viele müssen schon lange einen Teil ihrer Miete aus dem Regelsatz zahlen. Und was war mit jenen, die schon sanktioniert waren?

Psycho- soziale Folgen der Corona-Maßnahmen

Die Angst im Kapitalismus

Natürlich gab es auch im Realsozialismus Ängste. In der DDR hatte ich andere Ängste, zum Beispiel mein ganzes Leben innerhalb einer Mauer zu verbringen. Der Westen ist schlauer, das Geld ist die Mauer.

Erst im Kapitalismus lernte ich so richtig Existenzangst kennen.

Ebenso das Leistungs- und Konkurrenzprinzip, die Menschen im Kapitalismus werden gegeneinander in Stellung gebracht.

Und das alles zur Ware wird.

Die Geringverdiener befinden sich oftmals am Rand der Erschöpfung. Die Angst schreibt sich in ihre Körper ein.

Die Mitte befällt eine Statuspanik. Sie wollen ihren Status erhalten. Und eine Bildungspanik, den Druck geben sie an die Kinder weiter, die haben volle Terminkalender.

Die Menschen haben also viele Gründe Angst zu haben.

Die Probleme werden wiederum individualisiert: Angststörungen seien die häufigste psychische Erkrankung in Deutschland, 9.8 Millionen Betroffene gibt es, heißt es im Gesundheitsbericht des RKI aus dem Jahre 2015. Auch auf Websites von Psychiatrieverbänden fand ich die Zahl von fast 10 Millionen. (Was man diskutieren kann…)

Angst in der Corona-Krise

Es ist zu befürchten, dass es aufgrund der Angst und der Kontaktbeschränkungen langfristig zu psychsozialen Folgeerscheinungen kommen wird, die Krisentelefone laufen allerdings jetzt schon heiß.

Jetzt kommen zu dieser „normalen“ Angst im Kapitalismus weitere Ängste:

noch größere Existenzängste und Ängste durch Angsterzeugung.

In einem internen Papier des Innenministeriums, das bekannt wurde, wurden mögliche Szenarien dargestellt, auch ein worst case, und eine härtere Kommunikationsstrategie verlangt. Gefahren seien stärker zu betonen. Es drohe sonst Anarchie. Es wird autoritärer, so gibt es Bußgeldkataloge. So wurde jetzt ein Alkoholverbot in der Öffentlichkeit beschlossen. Was ist aber mit Obdachlosen und Suchtkranken? Wer ist von den Bußgeldern wieder am meisten betroffen?

Eine weitere Angst ist natürlich die Angst vor Ansteckung.

Im ersten Lockdown hatte auch ich ziemliche Angst, das hat sich wieder normalisiert. Es war, als befänden wir uns in einer Angstgemeinschaft mit Masken, in der Konsens darüber herrscht, die Risikogruppen zu schützen. Alles andere sei Mangel an Solidarität. Natürlich geht es jetzt um solidarisches Handeln, aber es ist schon verwunderlich, wer jetzt Solidarität einfordert. Nämlich zum Beispiel jene, die vorher neoliberale Politik betrieben und damit Egoismus und Ellenbogenmentalität befördert haben. Frank Biess schreibt, die Corona- Angst sei eine Globalisierungsangst, denn es bestehe die Gefahr, die Risiken der Globalisierung am eigenen Körper zu erfahren. Also die Krisenhaftigkeit der Globalisierung verwandelt sich in sinnlich erfahrbare Körperängste.

Insbesondere ältere Menschen und Menschen mit Behinderung hatten auch Angst davor, dass nur die sogenannten „Risikogruppen“ abgeschottet werden. Viele brauchen Assistenz oder Pflege und können sich nicht abschotten. Sie hatten auch Angst, Schuld zugewiesen zu bekommen, dass sich wegen der „Risikogruppen“ die anderen einschränken müssen.

Angst vor Einsamkeit

Der Sozialverband Deutschland hat letzte Woche in einem Gutachten vor zunehmender Einsamkeit und sozialer Isolation in der Corona-Krise gewarnt. Jeder fünfte Deutsche fühlt sich nicht mehr zugehörig. Jede/r kann einsam sein, das ist ein subjektives Gefühl. Je nach Studie sind 4-9 Millionen Menschen von Einsamkeit betroffen. Es wird in der Corona-Krise oftmals von den Älteren geredet. Aber: Jedes dritte Kind zeigte demnach Schwierigkeiten, mit der Corona-Krise zurecht zu kommen.

1) Armut ist ein Verstärker. Armut macht nicht nur krank, sondern oft auch einsam. Ausgrenzung führt zu sozialem Rückzug.

2) Einsamkeit kann viele Menschen treffen, insbesondere durch kritische Lebensereignisse, die das Leben grundlegend verändern. Krankheit, Unfall usw.

3) Besonders betroffen sind Pflegebedürftige, chronisch Kranke und Menschen mit Behinderung.

Sie isolieren sich in der Corona-Krise aus Selbstschutz oder sie werden isoliert. So hätten etwa Besuchsverbote und Ausgangsbeschränkungen in stationären Einrichtungen die Ausgrenzung von Pflegebedürftigen, chronisch Kranken und Menschen mit Behinderungen verstärkt. Selbsthilfegruppen trafen sich nicht mehr.

Experten sind sich einig, dass sich bestehende Krankheitsbilder oder Symptome verschlimmern können, vor allem im Falle von Depressionen, Angststörungen, Suchterkrankungen, aber auch bei Zwangsstörungen, Psychosen oder Traumata.

Allerdings sind viele Betroffene krisenerfahren, das kann ihnen auch durch die Corona-Krise helfen. Im ersten Lockdown sollen Angststörungen zugenommen haben, jetzt im zweiten depressive Symptome.

Was auch wenig bekannt ist: Suizide und Versuche. Die Berliner Feuerwehr rückte 2020 bisher 294 Mal unter dem Stichwort „Beinahe Strangulierung/ Erhängen“ aus. Im Vorjahr gab es drei vergleichbare Einsätze, 2018 sieben. (10.11.20 Berliner Zeitung) Es gibt unterschiedliche Zahlen, in Frankfurt haben die Suizide abgenommen.

4) Es gibt bei der Einsamkeit auch regionale Unterschiede, zum Beispiel wenn eine soziale Infrastruktur fehlt. Oft fehlen soziale Orte, Orte der Begegnung. Und öffentliche kostenfreie oder günstige Angebote. In der Corona-Krise zeigt sich besonders, wie wichtig diese sozialen Orte und die Infrastruktur sind, überhaupt die öffentliche Daseinsvorsorge und der Sozialstaat. Dafür müssen wir auch kämpfen.

Was wählen? Trump oder Clinton? Macron oder Le Pen? Pest oder Cholera?

Kernpunkte der faschistischen Ideologie:

Es kann den Deutschen gut gehen, wenn der Marxismus ausgerottet ist.
Demokratie ist eine zu schlappe Staatsform, es ist eine Diktatur notwendig.
Der Weltfeind Nr.1 sind die Juden, die ausgeschaltet werden müssen.
Die Lösung aller sozialen Probleme ist ein Eroberungsprogramm.
Notwendig sei eine Revolution. Die NSDAP sei eine Partei des kleinen Mannes, die gegen die „da oben“ kämpft. (Hitler mußte daher Bedenken bei Industrie und Militär ausräumen, ob die Millionenmassen zu bändigen seien, einige hundert SA-Führer wurden ermordet- Röhmaffäre)

Kernpunkte der AfD-Ideologie:

Es wird gegen Linksextremisten gewettert, obwohl Marxismus, Arbeiterbewegung, Realsozialismus tot und Linke kaum noch vorhanden sind…
Demokratieverdrossenheit…
Der Weltfeind Nr. 1 sind die Muslime….
Die Lösung aller sozialen Probleme ist die „Ausschaffung“ der Flüchtlinge.
Die AfD, die Partei des kleinen Mannes, die gegen die „da oben“ kämpft. (von wem finanziert?)

Kernpunkte der neoliberalen Ideologie:

Es wird gegen Linksextremisten gewettert, obwohl Marxismus, Arbeiterbewegung, Realsozialismus tot und Linke kaum noch vorhanden sind…
parlament. Demokratie: Wahlkreuz, gezwungenermaßen Bürgerbeteiligung (Mitmachfalle)
Der größte Feind sind die Armen, ob migrantisch oder nicht
Die Lösung aller Probleme ist der Markt…Sozial abgehängt? Selbst Schuld!
Die Mitte….

Stunk!

Die Armen rücken zusammen
die Reichen machen sich breit
warum gibt es keine Flammen
wann ist es bald so weit

Die Armen werden obdachlos
die Reichen bauen sich nen Palast
wann wehrt ihr euch bloß
befreit euch aus dem großen Knast

Die Armen schuften für Nichts
die Reichen füllen sich die Taschen
ihr auf alles verzichts
was seid ihr für Flaschen

Die Armen sitzen vor der Glotze
die Reichen machen auf Kultur
scheißt auf dieses Geprotze
gebt ihm eine Abfuhr

Die Armen werden früher krank
die Reichen treiben Fitness und Sport
euer Geld reicht nur halblang
ergreift doch einfach mal das Wort

Die Armen saufen sich zu Tode
die Reichen baden im Sekt
macht doch nicht mit bei jeder Mode
wovor ihr euch nur versteckt

Die Armen leben im Elend
die Reichen im Prunk
dass ihr Aliens endlich wegrennt
sonst gibt es von uns Stunk

Stunk! Stunk! Stunk!

Die Verwertbarkeit der Körper

Das Buch „Lookismus“ ist mit 86 Seiten als kleiner Sammelband in der Reihe „unrast transparent“ erschienen. Nach einer Einführung geht es im ersten Teil um eine multiperspektivische Betrachtung diskriminierender Mechanismen – um Abwertungen aufgrund von „Körperfett“, Behinderung, wegen der Körpergröße oder Transgeschlechtlichkeit. Im zweiten Teil werden Empowerment-Konzepte und -praktiken vorgestellt. Im Vorwort heißt es: „Lookismus beschreibt also Diskriminierung von Personen, deren Körper von gesellschaftlich gesetzten Normen auf vielerlei Weise abweichen.“

Bereits beim Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft entwickelte sich ein neues Verständnis von Körpern und Körperlichkeit. „Der Körper wurde zu einem Produkt, das individuell gestaltet und verbessert werden kann“, so die Autor*innen Philppe Greif und Nadine Sarfert. Mit dem Neoliberalismus veränderten sich die Anforderungen an die Körper und Körperlichkeit noch stärker. Der Körper stellt nunmehr einen Rohstoff der Selbstoptimierung dar. Mit den Hartzreformen wurden zwar die Straf- und Kontrollmaßnahmen ausgebaut, es geht jedoch in erster Linie darum, die disziplinierende Instanz in die Individuen hinein zu verlagern. Die Betonung von Selbstkontrolle führt zu einer „Individualisierung von gesellschaftlichen Problemlagen und hat eine Entproblematisierung sozialer Ungleichheit zur Folge“, schreiben Greif und Sarfert.
So passen Körper jenseits der gesellschaftlichen Schlankheitsnorm nicht zum Bild des flexiblen und leistungsfähigen sowie leistungsbereiten Menschen.

Die gesellschaftliche Konstruktion von „Problemkörpern“ und negative Klassenzuschreibungen gehen oftmals Hand in Hand. Die Mittelschicht ist zunehmend verunsichert, hat Abstiegsängste und grenzt sich von der „Unterschicht“ ab. „Dick“ – und damit „faul“ und „dumm“ – zu sein sei gleichbedeutend mit der Zugehörigkeit zur Unterschicht. Das körperliche Erscheinungsbild sei das Ergebnis selbst zu verantwortender Wahl. Vom Körper oder einzelnen Körperbereichen wird auf die Persönlichkeit, den Habitus, die Leistungsfähigkeit und umgekehrt geschlossen. Mit der Stereotypisierung bestimmter Verkörperungen lassen sich einfache Feindbilder schaffen.
Der Körper stellt eine Arena für gesellschaftliche Kämpfe dar. Die Ablehnung hegemonialer Schönheitsnormen verkehre sich oft in eine szenespezifische Gegennorm, die nicht minder ausschließend und abwertend wirke, so Corinna Schmechel. Ein exemplarisches (Self-)Empowermentprojekt ist das „Projekt L“. Es befasst sich als eines der ersten in Deutschland im Internet (lookism.org) mit dem Thema Lookismus. Weitere Infos : http://www.lookism.info

Darla Diamond, Petra Pflaster, Lea Schmid (Hg.), Lookismus, Normierte Körper – Diskriminierende Mechanismen – (Self-)Empowerment, Münster 2017, 7,80 Euro

(Erstveröffentlichung Contraste 10/2017)

Perspektivenwechsel

Die Kulturwissenschaftlerin Peet Thesing hat ein wertvolles Buch in die Debatte eingebracht, es ist eine Einführung in das Thema „Feministische Psychiatriekritik“.
In sechs Kapiteln werden die Themen „psychische Krankheit“, Diagnosen, psychiatrische Zugriffe, patriarchale Verhältnisse, Recht auf Selbstbestimmung und Handlungsmöglichkeiten erörtert. Wer ernst genommen werden will, muss sich vom „Verrückten“ abgrenzen, so die Autorin. Die Pathologisierung von Wahrnehmung, Denken und Verhalten sei alltäglich. Es gibt nach Thesing verschiedene psychiatriekritische Positionen: zunächst die Normalisierung, eine andere Position richtet sich vor allem gegen die Psychopharmaka-Industrie, Zwangsmaßnahmen und die Institution der Psychiatrie. Eine dritte Position lehnt das Konzept „psychische Krankheit“ ab, wobei es einen neoliberalen Zweig, die Menschen seien nur zu faul, und den folgenden Zweig dieser Kritik gibt. Peet Thesing schreibt: „Der andere Zweig, und hier verorte ich dieses Buch, kritisiert ebenfalls das Konzept `psychische Krankheit`, aber aus anderen Gründen: weil damit grundlegende gesellschaftliche Probleme verdeckt werden. Dieser Zweig besteht auf dem Recht auf Wahnsinn ebenso wie auf politischen Analysen der Gesellschaft.“
Thesing stellt fest: „Die Grenzziehung zwischen gesund und krank in Frage zu stellen, ist eine der wichtigsten Grundlagen von feministischer Psychiatriekritik.“ Basis jeder Hilfe sei die Krankheitseinsicht. Selbstpathologisierungen würden aber dazu beitragen, die gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Der Alltag ist zunehmend mit psychologischen Denken durchdrungen, so die Autorin. Sie fordert dagegen einen Perspektivenwechsel, nämlich auf die gesellschaftskritische Perspektive. Peet Thesing schreibt: „Durch eine Verschiebung der Diskussion auf das mangelnde eigene Können (durch ‚psychische Krankheit‘) verliert das Wollen an Bedeutung (…) Dabei liegt das emanzipatorische Potential doch eigentlich in der bewussten Verweigerung, sich den Verhältnissen unterzuordnen und in der Entscheidung, auch im Alltag Widerstand zu leisten.“
Als Alternativen benennt Thesing: die Abschaffung des psychiatrischen Zwangssystems, wobei Patient_innenverfügungen und Willensbekundungen hilfreich seien, sowie betroffenenkontrollierte Projekte. Es braucht Orte des Rückzugs, Orte zum Ausbrechen. Ein wichtiger Schritt sei, Communitys zu schaffen. Auch ohne psychiatrische Diagnosen sollte es solidarische Unterstützung geben. Das Nicht-Wollen könnte politisch in den Vordergrund rücken. Vieles in dem Buch wurde von der Autorin nur kurz angerissen, trotzdem ist es ein gute Grundlage für viele spannende Diskussionen.

Peet Thesing, Feministische Psychiatriekritik, unrast-Verlag, Münster 2017, 82 Seiten, 7,80 Euro

(Erstveröffentlichung in Contraste 11/2017)

Lobbyismus: Durch die Mitte Berlins

Die Mitte Berlins ist durch einen „Siegeszug finanzkräftiger Akteure“ gekennzeichnet. Nirgendwo ballt sich die Macht so stark in Deutschland, das verdeutlicht „LobbyPlanet – Der Reiseführer durch den Lobbydschungel“ von LobbyControl.
In dem „Lobbyplanet“ werden mehrere Routen vorgeschlagen, die die Leser*innen selbst zu Fuß oder mit Rad begehen können. Sehr interessant sind z.B. die Routen zur Gesundheitslobby sowie zur Energielobby. Auch die Rüstungslobby mit Diehl, Krauss-Maffei-Wegmann (KMV), Rheinmetall und Airbus macht sich in der Mitte Berlins breit. Nicht zu vergessen die Anwaltskanzleien wie Alber und Geiger, WilmerHale und Freshfields, die dort angesiedelt sind. Die Kanzleien sind im Lobbygeschäft sehr aktiv. Auch die Treffpunkte der Lobbyisten kommen im dem „Lobbyplanet“ nicht zu kurz, so der „Berlin Capital Club“ oder „Die Residenz“, wo sich Politiker, Lobbyisten aus Unternehmen und Verbänden, sowie berühmte Schauspieler und Musiker begegnen.

Externe Mitarbeiter*innen in den Ministerien

Die rot-grüne Bundesregierung führte ein Programm ein, das den Austausch von Personal zwischen den Ministerien sowie Unternehmen und Verbänden vorsah. Daraufhin entsandten Unternehmen und Verbände über 300 sogenannte „externe Mitarbeiter*innen“, die Insiderwissen erwarben, Netzwerke knüpften und an Gesetzen mitschrieben. So versandte die Interessenvertretung der Investmentbranche BVI von Januar bis August 2003 eine Juristin in das Bundesfinanzministerium. „Sie wirkte dort- weiter vom BVI bezahlt- am Entwurf zum Gesetz zur Modernisierung des Investmentwesens mit. Dieses erlaubte die Einführung hochspekulativer Finanzinstrumente- sogenannter Hedgefonds- in Deutschland und schaffte für Investmentfonds die Besteuerung von Zwischengewinnen der Privatanleger/innen ab.“ 2007 bekam eine Referentin der Bertelsmann Stiftung einen Schreibtisch im Gesundheitsministerium. Anliegen der Bertelsmann Stiftung ist es, die Privatisierung und Wettbewerbsorientierung des Gesundheitswesens voranzutreiben. Die Bertelsmann- Mitarbeiterin schrieb u.a. Redevorlagen für die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Auch Vertreter*innen der Deutschen Bank hatten bis 2008 einen eigenen Schreibtisch in verschiedenen Regierungsgebäuden- im Auswärtigen Amt, im Arbeits-, Bildungs-, Finanz-, Gesundheits-, Innen- und Wirtschaftsministerium. Aufgrund von Medienberichten und Protesten wurde der Einsatz von „Leihbeamten“ eingeschränkt. Es gibt allerdings Schlupflöcher. Heute stützt man sich wieder vermehrt auf externe Expertisen und Vergabe von Gutachten.
https://lobbypedia.de/wiki/Portal_Lobbyisten_in_Ministerien

Seitenwechsler: Von der Politik in die Wirtschaft

Es gibt nicht nur den Weg von Mitarbeiter*innen der Unternehmen und Verbände in die Ministerien, sondern auch Politikmitarbeiterinnen wechseln die Seiten, indem sie in die Wirtschaft gehen. Zum Beispiel ging Eckart von Klaeden 2013 vom Kanzleramt zur Daimler AG. Ronald Pofalla wechselte 2015 vom Kanzleramt zur Deutschen Bahn. Zeitgleich heuerte Ex- Entwicklungsminister Dirk Niebel beim Rüstungskonzern Rheinmetall an. Zuvor war er Mitglied im Bundessicherheitsrates, ein geheim tagendes Gremium, das über Rüstungsexporte entscheidet. Die Seitenwechsler nehmen ihr politisches Insiderwissen und Kontaktnetzwerk aus dem Amt mit.
„Nachdem Wolfgang Clement als Minister tiefgreifende Arbeitsmarktreformen vorgenommen hatte und in dieser Zeit die Leiharbeitsbranche in vielerlei Hinsicht begünstigte, wechselte er nicht einmal ein Jahr nach Ende der rot-grünen Koalition in den Aufsichtsrat der Zeitarbeitsfirma Deutsche Industrie Service AG (DIS AG). Als diese vom schweizerischen Konkurrenten Adecco übernommen worden war, wurde er zum Vorsitzenden der firmeneigenen Denkfabrik berufen.“
https://lobbypedia.de/wiki/Portal_Seitenwechsel
Lukrativ für Politiker sind auch ihre Nebeneinkünfte. So Rudolf Henke (CDU, stellvertretender Vorsitzender im Gesundheitsausschuss) Bundesvorsitzender des Ärzteverbandes Marburger Bund, Präsident der Ärztekammer Nordrhein, Beirat der Allianz-Versicherung und der Deutschen Ärzteversicherung (mindestens 147.000€). So Peer Steinbrück (SPD) – 2012 mindestens 698.945 Euro. Das meiste Geld verdiente Steinbrück mit Vorträgen. Gut dotiert war aber auch sein Aufsichtsratsmandat bei ThyssenKrupp. Im Jahr 2010 erhielt er dafür 47.907 Euro, 2011 waren es 67.038 Euro. https://lobbypedia.de/wiki/Nebeneink%C3%BCnfte_von_Abgeordneten
„Lobbyisten werden manchmal mit schwarzen Koffern voller Geld assoziiert. Dabei sind medialer Druck oder Arbeitsplatzargumente meist wichtigere Mittel. Aber es gibt sie auch, die Landschaftspflege über Gelder an Parteien.“

LobbyPlanet, Der Reiseführer durch den Lobbydschungel, Berlin 2015
Zu bestellen bei: http://www.lobbycontrol.de

1989 und bald 30 Jahre später…

Kurz nach dem Mauerfall

Ich sah Menschenmassen in Kreuzberg Schlange stehen.
Ich sah Häuser, die waren nicht verfallen, sondern saniert.
Ich sah Menschen mit weißen Zähnen, Menschen die anders aussahen.

Ich roch in den Läden einen Westduft.
Ich schmeckte erstmals eine Kiwi, von der ich nicht wußte, wie man sie ißt.
Ich hörte im Olympia- Stadion die Rolling Stones und später im Loft Nirvana.

Ich fühlte Scham über das Verhalten der Ossis, wie sie in Kreuzberg einfielen.
Ich fühlte mich frei ohne Mauer, spürte aber sozialen Druck aufgrund der Wohnungsnot.

Bald 30 Jahre später

Schicksal der Wegwerfexistenzen

Seltsame Zeiten mit absurden Zügen
auf dem Weg ins Nichts mit der stillen Post
man gewöhnt sich ans Scheitern und an`s Elend
Krokodilstränen

Eine Welt im Überfluß
sie klammern sich an ihre Privilegien
1,4 Milliarde Arme mit weniger als zwei Dollar am Tag
800 000 Hungernde an den Grenzen der Menschheit

Global zirkuliert das Kapital
Menschen versuchen Zäune zu überwinden
Lippenbekenntnisse der Politik
Spielarten des Egoismus

Hunger bedeute Flüchtlinge
Hunger bringe Terroristen hervor
Hunger gefährde den Frieden
Hunger führe zu Revolten

Arme sollen still halten und nicht aufmüpfig werden
Sie sollen nicht revoltieren aus Verzweiflung
ansonsten aber schön arm bleiben
denn die Ressourcen reichen nur für die Wohlhabenden

Georg Grosz verspottete die Reichen
heute spenden sie und sind die Retter der Welt
wie Bill Gates mit seinen Almosen
man hält die Armen am Leben

Wie Fußballstar Ronaldo
200 000 Dollar verdient er am Tag
er kümmere sich um die Hungernden
und wird dafür gefeiert

Almosen für den Seelenfrieden
damit die Verzweifelten nicht aufbegehren
Almosen gegen die Schuldgefühle
dabei ist die Ungleichheit des Eigentums aller Ursache

Du sollst…

Du sollst mitmachen
etwas aus deinem Leben machen
im Muff der Systeme
im Moloch der Stadt

Du sollst dich verschanzen
in der Routine des Lebens
Langweiler werden
mit dem Vokabular der Mitläufer

Du sollst schlendern
in den Kaufhäusern des Grauens
konsumieren bis zum Umfallen
flüchten ins Nichts

Du sollst schinden
mit berechnender Masche
die Zeit vergessen
im Keller der Strick

Gesundheit und Politik

Gesundheit ist Lifestyle
ein Statussymbol
ein Kosumprodukt
ein Investitionsobjekt

Gesundheit ist eine persönliche Sache
du bist selbst verantwortlich
soziale Krankheitsherde?
mit Gesundheit wird Geld verdient!

Wir müssen den Blick öffnen
was tun die Verhältnisse den Individuen an
Lichtgestalt oder Gefangenschaft?
Was ist aus den Hoffnungen geworden?

Arroganz der Macht
ein verinnerlichter Staat
Angstpolitik
gepanzert mit Zwang

Die einen durch Arbeitsverdichtung erschöpft
die Hartzis Wegwerfprodukte
Humankapital oder Kostenfaktor?
Angst vor dem Abrutschen?

In ungleiche Machtverhältnisse hineingeboren
das ist die Normalität
die Unterdrückten vermögen nicht zu sprechen
oder sie werden nicht gehört

Wo ist der Protestrohstoff?
Diszipliniert?

Sich der Last des Lebens fügen?
Nur Verzweiflung kann uns retten?
Was ist Leben?
Wenn wir zugedröhnt von Leidenschaft sind?
Vernunft oder Rausch

alles geht rasend schnell
nicht versinken im Elend
Klappern mit dem Schlüsselbund
Klimpern mit dem Geld
verweisen auf die Gewohnheit

Bösewichter rechts außen
in der Menge der Schurken untergehen
ein sinkendes Schiff
Flucht vor geballter Wucht
eine leere Schimäre

Die Erde restlos untertan

Das 841-seitige Buch „Der Hunger“ des Schriftstellers und Journalisten Martín Caparrós , geboren 1957 in Buenos Aires, ist ein zugleich erschreckendes und grandioses Werk, das Pflichtlektüre sein sollte. Der Autor mischt in seiner breit angelegten Darstellung Reportage, Kulturgeschichte, Essay und Streitschrift. Sein Bericht führt uns nach Niger, Indien, Bangladesch, in die USA, nach Argentinien, in den Südsudan und nach Madagaskar. „Alle vier Sekunden stirbt ein Mensch an Hunger, Unterernährung und damit verbundenen Krankheiten“, so der Autor. 50 Millionen der Hungernden sind Opfer einer Ausnahmesituation ̶ bleiben 730 Millionen, die Teil einer Ordnung sind, die ihnen die Möglichkeit verwehrt, sich zu ernähren. Ein Fünftel der Weltbevölkerung sind überflüssig, aus ihnen kann kein Mehrwert gezogen werden. „Ab wann zetteln sie politische Unruhen an?“ fragt ein katholischer Professor in Argentinien. Man müsse sie ernähren, damit es nicht zum sozialen Umsturz kommt. Daher die Almosen. „Etwas muss ich zahlen, je weniger, desto besser“, so der Professor. Der Hunger dient aber auch einem konkreten Zweck, wie in Bangladesch. Seit ihrem siebten Lebensjahr arbeitet Fatema zwölf Stunden am Tag in einer Textilfabrik. Fatema und ihre zwei Kinder müssen von ihrem Lohn, von etwa zwölf Dollar im Monat, leben. In dem Buch kommen viele der von Hunger Betroffenen zu Wort. Das Buch macht wütend, denn verantwortlich für den Hunger ist vor allem auch die neoliberale Politik der reichen Länder, deren Lebensweise und Geldgier. Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank zwangen den armen Ländern neoliberale Programme auf. 1991 kam zudem Goldman Sachs auf die Idee, unser täglich Brot in eine „großartige“ Geldanlage zu verwandeln, Nahrung wurde zum Spekulationsobjekt. Und besonders perfide zeigt sich der neue Kolonialismus: das Landgrabbing. Staaten und Investementfonds eignen sich Land in armen Regionen an. So beruht der Landbesitz in Madagaskar auf informellen Rechten, einem Gewohnheitsrecht. Nationale Beamte und ausländische Käufer pochen plötzlich auf das formelle Recht, um sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen. „Die Land-Grabbing-Welle ist der letzte Schritt des westlichen Kapitalismus, um sich die Erde restlos untertan zu machen“, so der Autor. Er schreibt, dass wir in einer Zeit ohne Zukunftsvision bzw. mit einer bedrohlichen Zukunft leben. Aber zugleich sei die Gegenwart auch eine faszinierende Zeit reinen Suchens. Schade, dass er am Schluss keine Alternativen benennt. Zudem meint er, die Armen würden nicht aufbegehren, denn fast alle Hungernden seien gläubig, nähmen ihr Schicksal als gottgewollt hin. An dieser Stelle hätte ich mir mehr Beispiele gewünscht, die auch das Aufbegehren von Armen zeigen.

Martín Caparrós , Der Hunger, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2016, 4,50 Euro

Die Szenenormen aufknacken

Klassenunterschiede innerhalb der Linken werden kaum thematisiert, oftmals werden sie unsichtbar gemacht. Die Soziologin Julia Roßhart hat diese in ihrem 574seitigen Buch, eine Dissertation, analysiert. In den 80er und 90er Jahre machten feministische Akteurinnen darauf aufmerksam, wie der Bewegungsalltag durch Klassenunterschiede geprägt wurde. Julia Roßhart versammelt in zwölf Kapiteln anti-klassistische Binneninterventionen der autonomen Frauen- und Lesbenbewegung. In sechs Kapiteln bezieht sich die Autorin auf „binnenkritische Interventionen im Kontext der BRD“, ergänzt durch „einen Blick auf Interventionen in Hochschule und Wissenschaft und auf anti-klassistische Denkanstöße aus anderen feministischen Bewegungskontexten (Niederlande, USA).“ Die meisten von ihr recherchierten Interventionen gingen von weißen, nicht- migrantischen und BRD-sozialisierten Akteurinnen(gruppen) aus. Die Wahl des Forschungsthemas hängt aufs Engste mit den eigenen Klassismuserfahrungen der Autorin zusammen, die sich vor allem auf Sprachnormen bezogen. Andererseits hatte sie ökonomische Privilegien. Und eine weiß privilegierte Perspektive.

Es geht nicht nur um ökonomische Unterschiede, zum Beispiel ökonomische Fortschreibungen von Klassenherkunft qua Erbschaften oder finanzieller Unterstützung. Die bürgerlichen FrauenLesben leben in dem Bewußtsein, dass sie abgesichert sind. Viele Mittelschichtslesben verbergen ihre ökonomischen Privilegien.
Auch Verhaltensmuster spiegeln den eigenen Status wider. Eine bestimmte Sprache und ein bestimmtes Auftreten signalisieren, daß jemand der herrschenden Klasse angehört. „Bürgerliche reden lange und viel, oft in wohlgeformten Sätzen, sie bestimmen den Tonfall.“ Auch in feministischen Bewegungen dominieren die Normen des Bildungsbürgertums. „Als Bestandteil des Klassenhabitus dient „guter Geschmack“ etwa in Bezug auf Essen, Kleidung oder Lebensstil als Abgrenzungs- und Abwertungsmechanismus von Seiten der privilegierten Klassen.“
Proletarische Frauen haben immer das Gefühl, ins Fettnäpfchen zu treten, etwas Falsches zu sagen, den Ton nicht zu treffen. Sie verleugnen z.B. an der Hochschule ihre Klassenherkunft, um nicht diskriminiert zu werden oder internalisieren die Herrschaftsverhältnisse. Sich selber runtermachen.

Die Prolo- Lesben hatten den Wunsch nach einer Abkehr vom „Bürgerlichen“ als Orientierung. Von ihnen wurden Umgangsformen, Sprache etc. verlangt, die sie nicht beherrschten. Sie wollten die Szenenormen aufknacken. Gefühle der Unterlegenheit und Minderwertigkeit wurden von ihnen als Folge bürgerlicher Normsetzungen politisiert. Die Prolo-Lesbengruppe I kritisiert, dass die Diskussion stark um Selbsterfahrung kreiste, aber kaum über die Ursachen der Klassenunterschiede geredet wurde. Die Proll-Lesbengruppe II weist daraufhin, dass zum Zeitpunkt ihres Bestehens (1990-92) Selbsterfahrung in feministischen Zusammenhängen als „out“, unpolitisch und unwissenschaftlich galt. Die Lesbengruppen leisteten vor allem Biographiearbeit, sie tauschten biographische Erfahrungen aus und stellten klassenbedingte Parallelen (und Unterschiede) fest. Dabei wiesen Aktivistinnen auf massive ökonomische Unterschiede aufgrund von Klassenherkunft hin, die sich auf Lebensbedingungen, Pläne und Sicherheitsempfinden auswirkten. Die Selbsterfahrungs-, Aufklärungs- und Veränderungsarbeit bleibe an denjenigen hängen, die von Diskriminierung betroffen sind.
Zwei Jahre gab es ein Umverteilungskonto, auf das (vergleichsweise) reiche Lesben bzw. Lesben aus der Mittelschicht einzahlten und arme Lesben Geld abhoben, und zwar anonym, weil die Offenlegung persönlicher Armut oft zu unangenehm ist. Die Gruppe wollte praktisch aktiv werden und „nicht mehr abgehoben über Klassen sprechen“.Es sei nämlich „absurd: jede steht mit Geldbeschaffung alleine da- aber hochtrabende Diskussionen“. Das Konto war auf die eigene Community begrenzt. Viele Mittelschichtslesben hätten ihre ökonomischen Privilegien verdeckt und spielten Armut „mit einem Bankkonto im Hintergrund“.

Der afro-karibisch- amerikanischen Dichterin, Aktivistin und Autorin Audre Lorde ist ein Kapitel gewidmet. Nach dem Mauerfall rücken in der weiß dominierten Frauen-/ Lesbenbewegung rassistisch deprivilegierte Gruppen in den Fokus. Es verstärken sich die Auseinandersetzungen um Rassismus. Audre Lorde sensibilisierte im Zuge ihrer Berlinaufenthalte für das Thema. Sie kritisierte auch die Ignoranz von Seiten weißer akademischer Frauen, die es erlaubt, feministische Theorie zu produzieren, ohne Beiträge „mittelloser, Schwarzer, Dritter Welt- und lesbischer Frauen“ einzubeziehen. „Wenn weiße feministische Theorie meint, sich nicht mit den Unterschieden zwischen uns beschäftigen zu müssen und mit den sich daraus ergebenden Unterschieden unserer Unterdrückung, wie geht ihr dann mit der Tatsache um, daß Frauen, die eure Wohnungen putzen und auf eure Kinder achtgeben, während ihr an Konferenzen über feministische Theorie teilnehmt, vorwiegend mittellose Frauen und `women of color` sind.“ (Audre Lorde) Lorde weist daraufhin, dass aus marginalisierten Positionen Erfahrungswissen herauswachse.

Ein Kapitel ist dem 1993 veröffentlichten Text „Eine neue bürgerliche Frauenbewegung?“ von Ilona Bubeck gewidmet. Sie kritisiert darin die Verabschiedung von der Praxis des sogenannten „Einheitslohnes“. Unterschiedliche berufliche Möglichkeiten wurden so individualisiert und entpolitisiert. Ilona Bubeck verweist auch auf das gewollt. „abgewrackte Aussehen“ als Norm in der Lesbenszene, womit Klassenunterschiede unsichtbar und zugleich hergestellt würden. „Unterschiede untereinander (werden) weggewischt und gleichzeitig die zu anderen Frauen verdeutlicht.“ Während den einen „verarmtes Aussehen verhaßt sei“, können sich die Mittelschichtsfrauen entscheiden, sich arm zu kleiden. „Gerade diejenigen, die sich vom bürgerlichen Elternhaus abgrenzen wollen, werfen den anderen Bürgerlichkeit vor.“ Es sei eine aufgesetzte „Abwärts-Mobilität“ von Seiten klassenprivilegierter Lesben.

Auch die radikalfeinistische Lesbenzeitschrift Ihrsinn befasste sich mit der Klassenfrage. Schreiben sei ein Klassenproblem. Das Umlernen von Sprache bedeutet für ArbeiterInnentöchter an der Hochschule Entfremdung und gefühlter Klassenverrat.

Auch die afro-amerikanische Aktivistin und Autorin bell hooks wird in dem Buch gewürdigt. Nach Audre Lorde seien Feministinnen nicht per se Verbündete für beispielsweise arme Frauen und Arbeiterinnen, sondern sie werden erst durch den gemeinsamen Kampf gegen kapitalistische Klassenverhältnisse zu Verbündeten. Bell hooks verbindet sowohl Binnenkritik auf Bewegungsebene und Kapitalismuskritik miteinander. Ein Feminismus, der den (Klassen-) Interessen weißer ökonomisch privilegierter Frauen dient, hat einen Preis, den andere Frauen zu zahlen haben. Die Zielsetzung, Erwerbstätigkeit und Karriere zu ermöglichen, sei typisch für klassenprivielegierte Frauen. Arme Frauen und Arbeiterinnen erlebten Lohnarbeit weniger als Befreiung denn als Ausbeutung. Bell hooks setzt auf einen marginalisierten, „revolutionären“, „radikalen“, „visionären“ Feminismus, der auf eine Umverteilung des Reichtums abzielt.

In dem Buch wird auch auf die Akademisierung des Feminismus verwiesen. Der Zugang von klassenprivilegierten FrauenLesben zum Hochschulstudium hat sich grundlegend verbessert. Es herrsche aber ein Anpassungsdruck an den Hochschulen, die die Arbeiterinnenherkunft zum Verschwinden bringe. Die nicht Bürgerlichen erleben Sprachlosigkeit, Nervosität, diffuse Ängste, Selbstzweifel, Gefühle von Inkompetenz und Fremdheit, Redehemmungen, Unsicherheiten. Es gebe einen Druck, so zu werden wie die anderen.

„Die Herstellung und Ablehnung der Arbeiter*innenklasse als nicht intelligent, akademisch unfähig und so weiter ist die zentrale Lüge, auf der die Gemeinschaft der Subjekte innerhalb der Akademie basiert, die nichts miteinander gemein haben außer ihrem Glauben daran, dass die Arbeiter*innenklasse weniger intelligent ist als sie selbst. Diese Ablehnung ist entscheidend, um zu verstehen, warum Frauen mit Arbeiter*innenhintergrund ihren Arbeiter*innenklasse-Körper zusammen mit ihrer Sprache, ihrem Verhalten und ihren Handlungen aus dem akademischen Kontext ausschließen.“
Die Arbeiter*innenklasse wird an der Hochschule zum Verschwinden gebracht.

Anja Meulenbelt thematisiert, wie Herrschaftsverhältnisse qua Sozialisation reproduziert werden, wie sich Klassenunterschiede in Personen einschreiben: in ihr Verhalten, in Wahrnehmungen, Werte, Lebensvorstellungen… So beschreibt sie unterschiedliche Klassenerfahrungen von Frauen in Kindheit und Jugend, wobei „verinnerlichte Herrschaft und Unterdrückung“ Schlüsselbegriffe sind. Ihr Schwerpunkt ist die Sozialisation: „(…)wie wir geworden sind, was wir sind, wie wir die Normen der herrschenden Gruppe übernommen haben, wie wir die Unterdrückung verinnerlicht haben.“ Sie beschreibt Entfremdungsängste und -erfahrungen beim Klassenaufstieg (beispielsweise an der Universität). Sie weist auf einen Mangel an „Zukunftserwartungen“ hin, „als Folge begrenzter Gestaltungsmacht über das eigene Leben und als Folge mangelnder Vorbilder.“
Sie konstatiert, dass die intensiven frühen feministisch- sozialistischen Klassendiskussionen der 1970er Jahre sich eher einseitig mit Klasse auf einer „abstrakten theoretischen Ebene“ befasst haben: „Von lebendigen Menschen handelte die Debatte nicht.“

„Die Klasse bestimmt dein Verhalten und deine grundsätzlichen Lebensauffassungen (…), was du von dir und von anderen erwartest, deine Zukunftsvorstellungen, wie du Probleme erlebst und sie verarbeitest, wie du denkst, fühlst und handelst.“
Frauen-Lesben mit (eher) deprivilegierten Klassenherkünften artikulieren Erfahrungen sprachlicher Diskriminierung, werden z.B. „gehänselt“, beschreiben Schamgefühle, Armutserfahrungen oder den berufsbedingten Mangel an elterlicher Aufmerksamkeit.
„Menschen aus höheren Klassen haben meist gelernt, daß ihre gesellschaftliche Stellung ihnen zusteht. Ihre Privilegien empfinden sie nicht als Vorrecht, sondern sie glauben, diese verdient zu haben. Die Vorteile einer höheren Klassensozialisation sind die Leichtigkeit, sich in Gesellschaft zu bewegen, die Sprache zu sprechen, die einem die Türen öffnet, keine Angst im Umgang mit Autoritäten zu haben.“
Bürgerliche Feministinnen gehen davon aus, das z.B. bezogen auf die Bewertung von Lohnarbeit ihre Forderungen für alle Frauen gelten.

Klasse war kein großes binnenkritisches Thema in der feministischen Bewegung der 1980er und 1990er Jahre, aber es war Thema.

Julia Roßhart, Klassenunterschiede im feministischen Bewegungsalltag, Anti-klassistische Interventionen in der Frauen- und Lesbenbewegung der 80er und 90er Jahre in der BRD, Berlin 2016