Perspektivenwechsel

Die Kulturwissenschaftlerin Peet Thesing hat ein wertvolles Buch in die Debatte eingebracht, es ist eine Einführung in das Thema „Feministische Psychiatriekritik“.
In sechs Kapiteln werden die Themen „psychische Krankheit“, Diagnosen, psychiatrische Zugriffe, patriarchale Verhältnisse, Recht auf Selbstbestimmung und Handlungsmöglichkeiten erörtert. Wer ernst genommen werden will, muss sich vom „Verrückten“ abgrenzen, so die Autorin. Die Pathologisierung von Wahrnehmung, Denken und Verhalten sei alltäglich. Es gibt nach Thesing verschiedene psychiatriekritische Positionen: zunächst die Normalisierung, eine andere Position richtet sich vor allem gegen die Psychopharmaka-Industrie, Zwangsmaßnahmen und die Institution der Psychiatrie. Eine dritte Position lehnt das Konzept „psychische Krankheit“ ab, wobei es einen neoliberalen Zweig, die Menschen seien nur zu faul, und den folgenden Zweig dieser Kritik gibt. Peet Thesing schreibt: „Der andere Zweig, und hier verorte ich dieses Buch, kritisiert ebenfalls das Konzept `psychische Krankheit`, aber aus anderen Gründen: weil damit grundlegende gesellschaftliche Probleme verdeckt werden. Dieser Zweig besteht auf dem Recht auf Wahnsinn ebenso wie auf politischen Analysen der Gesellschaft.“
Thesing stellt fest: „Die Grenzziehung zwischen gesund und krank in Frage zu stellen, ist eine der wichtigsten Grundlagen von feministischer Psychiatriekritik.“ Basis jeder Hilfe sei die Krankheitseinsicht. Selbstpathologisierungen würden aber dazu beitragen, die gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Der Alltag ist zunehmend mit psychologischen Denken durchdrungen, so die Autorin. Sie fordert dagegen einen Perspektivenwechsel, nämlich auf die gesellschaftskritische Perspektive. Peet Thesing schreibt: „Durch eine Verschiebung der Diskussion auf das mangelnde eigene Können (durch ‚psychische Krankheit‘) verliert das Wollen an Bedeutung (…) Dabei liegt das emanzipatorische Potential doch eigentlich in der bewussten Verweigerung, sich den Verhältnissen unterzuordnen und in der Entscheidung, auch im Alltag Widerstand zu leisten.“
Als Alternativen benennt Thesing: die Abschaffung des psychiatrischen Zwangssystems, wobei Patient_innenverfügungen und Willensbekundungen hilfreich seien, sowie betroffenenkontrollierte Projekte. Es braucht Orte des Rückzugs, Orte zum Ausbrechen. Ein wichtiger Schritt sei, Communitys zu schaffen. Auch ohne psychiatrische Diagnosen sollte es solidarische Unterstützung geben. Das Nicht-Wollen könnte politisch in den Vordergrund rücken. Vieles in dem Buch wurde von der Autorin nur kurz angerissen, trotzdem ist es ein gute Grundlage für viele spannende Diskussionen.

Peet Thesing, Feministische Psychiatriekritik, unrast-Verlag, Münster 2017, 82 Seiten, 7,80 Euro

(Erstveröffentlichung in Contraste 11/2017)