Fragile Mitte TEIL2

Nach 2006, 2008, 2010, 2012 gab es 2014 die fünfte Mitte- Studie der Friedrich- Ebert- Stiftung. Die Zusammenarbeit mit der Universität Leipzig wurde beendet und eine neue mit dem Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung Bielefeld begonnen. Die Reihe „Deutsche Zustände“ und die FES- Mitte- Studien wurden 2014 zusammengeführt.
Von den Wissenschaftlern Elmar Brähler und Oliver Decker wiederum werden die Leipziger Mitte- Studien fortgesetzt. Siehe die neueste Studie 2016: http://www.rosalux.de/publication/42412

Die FES- Mitte- Studie 2014, Teil 2

Zu4) Marktförmiger Extremismus (Ökonomismus)

Es lasse sich seit Mitte der 1980er Jahre in Deutschland eine neoliberale Wende in der Sozial- und Wirtschaftspolitik beobachten. Eine aktivierende Sozialpolitik überträgt die Verantwortung immer stärker den Einzelnen. Alle Lebensbereiche werden der unternehmerischen Verwertungslogik unterworfen, so gibt es eine Ökonomisierung des Sozialen. Menschen werden nach reinen Kosten- Nutzen Maßstäben bewertet. Menschen fühlen sich in ihrem Lebensstandard bedroht.
„Gerade in dieser Verbindung von Bedrohungsängsten und marktförmigem Extremismus vermuten wir darüber hinaus ein gesellschaftliches Potential, an das gegenwärtige politische Mobilisierungsversuche anknüpfen, die durch ihre Verbindung von Wettbewerbslogiken mit Bedrohungsszenarien, Nationalismus und Menschenfeindlichkeit als wettbewerbspopulistisch bezeichnet werden können.“

Sie unterscheiden drei Facetten des marktförmigen Extremismus

1) der unternehmerische Universalismus: eine Norm der Selbstoptimierung. Von jedem werden unternehmerische Tugenden wie Flexibilität, Risikofreudigkeit, Kreativität, Eigenverantwortung etc. als Charaktereigenschaften gefordert, zielt auf den Abbau der Solidarität, Schuld bei fehlender Selbstoptimierung wird beim Einzelnen gesucht
(wirken in der Mitte und insbesondere in der obersten Schicht)
2) Wettbewerbsideologie: es wird ein allgegenwärtiger Wettbewerb gefordet, um Fortschritt und Erfolg zu erzielen
(in allen Schichten verbreitet, Zustimmungsraten zwischen 50 und 60%)
3) ökonomistische Werthaltungen: es werden ökonomische Kriterien auf die Bewertung von ganzen Bevölkerungsgruppen angewendet
(besonders die untere Schicht stimme folgendem zu: Keine Gesellschaft kann sich Menschen leisten, die wenig nützlich sind. Menschliche Fehler können wir uns nicht mehr erlauben.)

Laut FES- Studie würden vor allem die untere Schicht mit fast 30% dem marktförmigen Extremismus zustimmen. Die Mitte sei aber aufgrund ihrer neoliberalen Selbstoptimierungsnorm anfällig für ökonomistische Bewertungen von Menschen. Die Bedrohung des Lebensstandards sei Motor für marktförmigen Extremismus.
„Menschen, die marktförmigen Extremismus befürworten, tendieren auch dazu, die Aussagen zum Rechtsextremismus zu befürworten.“ Einen extrem hohen Zusammenhang gibt es zu Sozialdarwinismus und „Ausländerfeindlichkeit“ (Rassismus!).

„Marktförmiger Extremismus ist kein dominantes Phänomen in der Mitte, jedoch weist er über die unternehmerische Selbstoptimierungsnorm deutliche Verbindungslinien zur Mitte auf und öffnet dort damit Türen für Abwertung und Ausgrenzung mit dem Argument mangelnder Nützlichkeit und Ineffizienz. Marktförmiger Extremismus ist damit ein Ausdruck der Fragilität der Mitte.“
Wenn Bedrohungsängste dazu kommen, dann seien die Personen besonders anfällig für marktförmigen Extremismus. Die AFD greife insbesondere das wettbewerbspopulistische Potential als politisches Sprachrohr auf und scheine gerade diese ökonomisch menschenfeindliche Verbindung zu kanalisieren.

Zu5) Anti- europäische Reflexe

Spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 in Europa werden euro- skeptische und EU- und Europa-kritische Stimmen laut. Es wird gegen südeuropäische Länder gehetzt, wie die „Pleite- Griechen.“ Selbst Stimmungsmache gegen nicht- heterosexuelle Menschen ist wieder zu beobachten. Die AfD proklamiert eine völkisch anmutende Familienpolitik. ¼ der Befragten haben eine Skepsis gegenüber der EU. Jene, die sich Sorgen um die finanzielle Situation der Deutschen aufgrund der Eurokrise machen und sich für eine Rückbesinnung auf Deutschland aussprechen, bieten ein Einfallstor für rechtspopulistische Akteure wie die AfD.

„Selbstverständlich sind nicht alle, die Kritik an der EU äußern, Rechtspopulisten oder gar Rechtsextremisten. Ähnlich wie bei der Demokratiekritik…“
Eine beträchtliche Zahl von Menschen verbindet diese Kritik aber mit der Abwertung von europäischen Nachbarn oder „Fremden“ (Muslime etc.) sowie „Abweichenden“ (nicht-heterosexuelle Menschen).

Der Brexit läßt grüßen…

Herausgegeben für die Friedrich- Ebert- Stiftung von Ralf Melzer
Andreas Zick, Anna Klein, Fragile Mitte, Feindselige Zustände, Dietz 2014

Fragile Mitte TEIL1

Nach 2006, 2008, 2010, 2012 gab es 2014 die fünfte Mitte- Studie der Friedrich- Ebert- Stiftung. Die Zusammenarbeit mit der Universität Leipzig wurde beendet und eine neue mit dem Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung Bielefeld begonnen. Die Reihe „Deutsche Zustände“ und die FES- Mitte- Studien wurden 2014 zusammengeführt.
Von den Wissenschaftlern Elmar Brähler und Oliver Decker wiederum werden die Leipziger Mitte- Studien fortgesetzt. Siehe die neueste Studie 2016: http://www.rosalux.de/publication/42412

Die FES- Mitte- Studie 2014

Die normbildende Mitte sei fragil, instabil, brüchig. Die Mitte sei zerbrechlich, wenn sie ein bestimmtes Ausmaß an Ungleichwertigkeitsideologien aufweise. Zudem richte sich die Feindseligkeit nicht nur gegen andere, wie wohnungslose und arbeitslose Menschen, man könne auch selbst mal zu dieser Gruppe gehören.

Bruchstellen seien:
1) Akzeptanz rechtsextremer Orientierungen in der Mitte bzw. in weiten Teilen der Bevölkerung
2) Akzeptanz und Befürwortung von menschenfeindlichen Meinungen
3) Vorstellung einer (sinn-)entleerten Demokratie
4) marktkonformer und -förmiger Extremismus: Ökonomismus
5) anti-europäische Reflexe

Datengrundlagen:
Es wurden 2008 Bürger mittels eines standardisierten Fragebogen telefonisch befragt. Zudem wurden die FES- Mitte-Studien seit 2006 und die Datensätze zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (Deutsche Zustände/ Heitmeyer) seit 2002 genutzt.

Zu 1) Verbreitung rechtsextremer Einstellungen

Hier wurde die Definition der Leipziger Wissenschaftler weiter genutzt.

Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur: Darunter sind Vorstellungen einer homogenen Gesellschaft zu verstehen, die mit einer starken Hand durchgesetzt werden.

Verharmlosung des Nationalsozialismus: Leugnen der verbrecherischen Verfasstheit des Nazisystems, die angeblich guten Seiten des Regimes werden hervorgehoben

Chauvinismus: Nationalismus, der deutsche Interessen nach außen durchsetzt

Ausländerfeindliche Einstellungen (Rassismus!): Ressentiments gegenüber MigrantInnen

Antisemtismus: „Vorstellung von einer rassischen Unterscheidbarkeit von Minderheiten, verbunden mit Ressentiments ihrer Minderwertigkeit und von ihr ausgehenden Bedrohlichkeit“

Sozialdarwinismus: Übertragung biologischer Theorien in den Bereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens, mit der Idee, der Stärkere müsse sich durchsetzen und der Schwächere sei weniger wert

36% stimmten der Aussage zu: „Wir sollten endlich wieder Mut zu einem starken Nationalgefühl haben.“
23% stimmten der Aussage zu: „Was Deutschland jetzt braucht ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert.“
18% stimmten der Aussage zu: „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet.“

Bei Personen, die im Osten aufgewachsen sind, gab es rechtsextreme Einstellungen häufiger, insbesondere Rassismus, die Unterschiede zwischen abwärts- und aufwärtsdriftenden Regionen waren aber größer als die Ost- West- Differenzen. Erschreckend aber, dass vor allem bei Jüngeren (16- bis 30jährigen) rechtsextreme Einstellungen vorhanden sind. Befragte mit Abitur haben seltener rechtsextreme Einstellungen.

Zu 2) Menschenfeindliche Zustände

Hier wurden zwölf Facetten der Abwertung untersucht.

Fremdenfeindlichkeit: bedrohlich wahrgenommene kulturelle Differenz und materielle Konkurrenz um knappe Ressourcen

Klassischer Antisemitismus: Feindseligkeit gegenüber Juden, denen bedrohliche Absichten, „Verschwörung“ und „Ausbeutung“ unterstellt wird

Abwertung von Menschen mit homosexueller Orientierung: wird als Normabweichung und Verstoß gegen geltende Moralvorstellungen verstanden

Abwertung von wohnungslosen Menschen: entspricht nicht den Normalitätsvorstellungen

Abwertung von behinderten Menschen: werden z.B. als Kostenfaktor gesehen

Islamfeindlichkeit: Bedrohungsgefühle und Abwertungen von Muslimen, ihrer Kultur und z.B. religiösen Aktivitäten

Etabliertenvorrechte: Alteingesessene beanspruchen Vorrang- und Vormachtstellung gegenüber „Neuen“, „Zugezogenen“ und „Unangepassten“

Klassischer Sexismus: Frauen wird eine häusliche Rolle zugewiesen und Überlegenheit des Mannes behauptet

Abwertung von langzeitarbeitslosen Menschen: Z.B. Vorwurf des Sozialmissbrauches und Faulheit

Abwertung von Roma und Sinti: ihnen wird Kriminalität, Unangepasstheit und Missbrauch des Sozialstaates vorgeworfen

Abwertung von asylsuchenden Menschen: ihnen wird unterstellt, sie würden Notlagen nur vortäuschen

Jeder Vierte sieht Parallelen zwischen dem staatlichen Handeln Israels und dem Handeln der Nazis.
Mehr als ein Drittel der Befragten ist der Ansicht, es gäbe zu viele Ausländer in Deutschland.
38% der Befragten haben Ressentiments gegen Sinti und Roma.
Menschenfeindliche Einstellungen sind durchgängig im Osten verbreiteter, nur nicht bei der Abwertung von Behinderten und beim Sexismus.
Das Bildungsniveau spielt eine Rolle. (Frage: Vielleicht wissen die höher Gebildeten auch nur, wie man richtig antwortet?)
Mit 57,6% der Befragten ist die Abwertung von Langzeitarbeitslosen bei den 16- 30 Jährigen besonders hoch. Jüngere Menschen haben anscheinend die ökonomistischen Wertvorstellungen internalisiert.
Insbesondere die unteren Schichten seien anfällig für viele Facetten der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Nur die Abwertung Langzeitarbeitsloser sei in allen Schichten verbreitet!

Zu3) Mitten in einer entleerten Demokratie

Einerseits nehme das bürgerschaftliche Engagement zu, andererseits wenden sich viele BürgerInnen von der parlamentarischen Politik ab, was sich an der Wahlenthaltung und einer Unzufriedenheit mit der Demokratie äußert.

Fünf Facetten der Demokratieentleerung:

Demokratieermäßigung: „Politische Entscheidungen werden vermehrt an den Interessen ökonomisch starker Gruppierungen ausgerichtet, während der Einfluss der übrigen Bevölkerung schwindet.“
„Letztendlich entscheidet die Wirtschaft in unserem Land und nicht die Politik.“ (Zustimmung insgesamt 74,6%)

Demokratieaushöhlung: Einschränkung von Freiheitsrechten im Sinne verstärkter Kontrolle und Überwachung
„Der Staat schränkt die Freiheit der Bürger mehr und mehr ein.“ (Zustimmung insgesamt 56,4%)

Demokratievernachlässigung: Qualitätsverlust der Demokratie, wenn von Seiten der Zivilgesellschaft die Bereitschaft, sich zu engagieren, nachläßt
„Gegen soziale Missstände wird in Deutschland zu wenig protestiert.“ (Zustimmung insgesamt 74,1%)

Demokratiemissachtung: „Verhalten politischer Eliten, dass mit einem geringen Unrechtsbewusstsein einhergeht und Ausdruck in Parteispendenskandalen, Korruption und verdecktem Lobbyismus findet“
„Politiker nehmen sich mehr Rechte heraus als normale Bürger.“ (Zustimmung insgesamt 75,6%)

Demokratiezweifel: stellt die Funktionsfähigkeit der Demokratie in Frage
„Die demokratischen Parteien zerreden alles und lösen die Probleme nicht.“ (Zustimmung insgesamt 73,1%)

„Allgemeine Demokratiezweifel und pauschale Kritik an politischen Eliten gehen mit einer Ideologie der Ungleichwertigkeit einher, kritische Einstellungen zur Übermacht der Ökonomie und zur Demokratievernachlässigung sind hingegen nicht mit Ungleichwertigkeitsideologien verbunden.“

„Bei Personen, die allgemeine Demokratiezweifel haben, ist die Zustimmung zu rassistischen Aussagen höher als im Bevölkerungsdurchschnitt. Noch deutlicher zeigt sich dies bei Personen, die eine pauschale Kritik an Politikern üben. Dies ist häufig auch ein Ansatzpunkt rechtspopulistischer Politiker, die sich gezielt als ‚Saubermann‘, rechtschaffen und bürgernah geben und sich so von Politikern demokratischer Parteien abgrenzen.“, so die FES-Mitte- Studie.

Personen, die das Verhalten der politischen Eliten kritisieren, seien am geringsten bereit, an Demonstrationen teilzunehmen. Sie nutzen selten Beteiligungsmöglichkeiten. Bei den Personen mit Demokratiezweifeln und Kritik an der Demokratiemissachtung treffe es zu, dass die Unzufriedenheit mit der Demokratie „zu politischer Apathie und eine Abkehr von der Demokratie“ führe.

Herausgegeben für die Friedrich- Ebert- Stiftung von Ralf Melzer
Andreas Zick, Anna Klein, Fragile Mitte, Feindselige Zustände, Dietz 2014

Der Paritätische zur Ungleichheit

Paritätische Jahresgutachten, Mai 2016
Ungleichheit: Ausmaß, Ursachen und Konsequenzen

Die Wirtschaft wächst- und die Ungleichheit auch.
Vermögensdisparitäten:„Etwa 40 Prozent der Bevölkerung verfügen über keinerlei Vermögen, nicht wenige sind dagegen verschuldet. Über 63 Prozent des gesamten Nettovermögens gehören den reichsten 10 Prozent der Bevölkerung, allein das vermögendste Hunderstel der Bevölkerung vereint 29 Prozent der privaten Nettovermögen auf sich.“
Regionale Disparitäten: Viele Regionen sind in einem Teufelskreis der Ungleichheit gefangen.
Chancendisparitäten: „Die soziale Mobilität nimmt ab, schicht- und klassenspezifische Risiken nimmt ab, schicht- und klassenspezifische Risiken nehmen zu. Wer arm geboren wird, dessen Entfaltungsmöglichkeiten sind eingeschränkt.“ Der Anteil der Studienanfänger mit „niedriger Bildungsherkunft“ hat sich von 1991 bis 2012 halbiert. Auch durch Heirat wird der soziale Status gefestigt, 80 Prozent der Paare haben einen ähnlichen beruflichen und Bildungshintergrund.
Eine zunehmende soziale Ungleichheit gefährdet das „soziale Band“ der Gesellschaft. Das geht mit Hass und Gewalt einher. So gab es 2015 laut Bundeskriminalamt 1005 Angriffe auf Flüchtlingsheime.
Arbeit: 2015 waren über 43 Millionen Menschen erwerbstätig- das ist ein Spitzenwert. Das Arbeitsvolumen hat dagegen den Stand von 1960. Knapp ein Viertel der Beschäftigten befindet sich im Niedriglohnsektor. Viele sind in atypischer Beschäftigung, z.B. Leiharbeit, Minijobs etc. Der Neueintritt in den Arbeitsmarkt resultiert vor allem aus der Stillen Reserve, die Zahl der Arbeitslosen nahm von 2013 auf 2014 nur um 50 000 Personen ab. Nur 17,2 Prozent der Abgänge aus ALGII mündete in den ersten Arbeitsmarkt.
Mindestsicherung: Seit 2005 ist eine Zunahme an Grundsicherungsbeziehern zu verzeichnen. Mittlerweile gibt es mehr als eine Million Bezieher von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.
Überschuldung: 2015 gab es 6,7 Millionen Verschuldete

Gleichheit ist Glück TEIL2

In dem Buch „Gleichheit ist Glück“ von Richard Wilkinson und Kate Picket wird untersucht, welche Folgen die soziale Ungleichheit für Gesellschaften hat.

In zahlreichen Studien wurde nachgewiesen, dass ein geringer sozialer Status zu schlechterer Gesundheit führt. Wo immer man sich in der Hierarchie befindet: „Die über uns sind gesünder, die unter uns sind kränker.“ „Nicht nur das Bewusstsein, selbstbestimmt zu leben, beeinflusst unsere körperliche Gesundheit, sondern auch die Frage, ob wir uns glücklich fühlen, ob wir optimistisch oder pessimistisch sind, oder ob wir uns anderen Menschen gegenüber vielleicht feindlich oder aggressiv verhalten. Unser psychisches Wohlbefinden wirkt sich unmittelbar auf die Gesundheit aus, und ein geringer sozialer Status trägt natürlich kaum dazu bei, sich glücklich, optimistisch und selbstbestimmt zu fühlen.“ Unsere Gesundheit beeinflussen aber nicht nur der soziale Status und das psychische Wohlbefinden, sondern auch die soziale Integration, die Beziehungen zu anderen Menschen. Der soziale Rückhalt ist wichtig, die soziale Vernetzung. Die Ungleichverteilung führt zu einer geringeren Lebenserwartung. Ungleiche Gesellschaften sind auch ungesünder. So nimmt auch die Fettleibigkeit zu. Übergewicht ist eine Klassenfrage. Es zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Einkommensungleichverteilung und Übergewicht in den armen Schichten. Vor allem gibt es einen Zusammenhang von sozioökomoischem Status und Fettleibigkeit bei Frauen. Damit sind vor allem junge Frauen auf dem Arbeits- und Heiratsmarkt diskriminiert. Übergewicht beeinträchtigt die soziale Mobilität. „Wie wichtig die Frauen ihr Körpergewicht nehmen und welches Körperideal sie anstreben, ist offenbar schichtspezifisch verschieden (…) In den reichen Ländern streben die Frauen der höheren sozialen Schichten offenbar eher die Magerkeit als Schönheitsideal an, und sie sind darin auch erfolgreicher.“ Fettleibigkeit und Übergewicht seien allerdings nicht nur ein Problem der Armen. In den USA waren mehr als 75 Prozent übergewichtig.

Es gibt auch einen Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und schulischen Leistungen. Der entscheidende Faktor für gute schulische Leistungen der Kinder ist die Familie. Zeit- und Geldmangel, Streit und Gewalt in der Familie, psychische Erkrankung eines Elternteils- all das wirkt sich auf die Entwicklung des Kindes aus. Die Mittelschicht setzt auf Bildung, Eltern aus der Arbeiterschicht erwarten andere Verhaltensweisen. In sehr ungleichen Gesellschaften haben Kinder häufig unrealistische Berufswünsche, Hoffnungen, die zu herben Enttäuschungen führen.

In ungleichen Gesellschaften kommt es auch häufiger zu Teenagerschwangerschaften und zu Gewalt aus mangelnder Anerkennung.
„Während bei Frauen das Aussehen und die körperliche Attraktivität die wichtigste Rolle spielen, hängt bei den Männern der Erfolg im sexuellen Bereich entscheidend von ihrem Status ab.“ Frauen nehmen den finanziellen Status eines möglichen Partners doppelt so wichtig wie Männer. „Frauen versuchen also ihre sexuelle Attraktivität durch Kleidung und Make- up zu erhöhen, Männer dagegen müssen um ihren Status kämpfen. Das erklärt zum einen, warum Situationen, in denen sich ein Mann erniedrigt oder respektlos behandelt fühlt, die häufigsten Auslöser von Gewalttaten sind, es erklärt auch, warum die meisten Gewalttaten aus Auseinandersetzungen zwischen Männern hervorgehen. Für Männer steht einfach mehr auf dem Spiel, wenn Statusverlust droht oder Statusgewinn winkt. Rücksichtsloses oder offen gewalttätiges Verhalten finden sich bei den jungen Männern aus den untersten sozialen Schichten: Sie können keine Statussymbole vorweisen, sondern sie müssen darum kämpfen, ihr Gesicht zu wahren und ihren geringen Status zu verteidigen; also reagieren sie auf jede Bedrohung extrem heftig.“
Je ungleicher Gesellschaften sind, um so schärfer ist die Statuskonkurrenz. Dabei bleiben viele Menschen auf der Strecke. Sobald die Ungleichheit abnimmt, sinkt auch die Gewaltrate.
Länder mit größerer Ungleichheit weisen auch eine höhere Rate von Gefängisinsassen auf. Das liegt an einem höheren Strafmaß, wobei Täter für kleine Delikte lange Strafen absitzen müssen. Dabei landen Menschen aus unteren sozialen Schichten viel häufiger im Gefängnis als Menschen mit einem höheren sozialen Status. Auch die ethnische Zugehörigkeit ist dabei entscheidend. Afroamerikaner in den USA werden häufiger eingesperrt. In Gesellschaften mit mehr Ungleichheit werden schärfere Strafen verhängt. Auch die Verhältnisse in den Strafanstalten sind härter.

Größere Einkommensungleichheit schränkt auch die soziale Mobilität ein. In den USA konzentriert sich die Armut immer stärker in bestimmten Wohngebieten. „Wo immer besonders viele Arme leben, müssen die Menschen nicht nur mit der eigenen Armut zurechtkommen, sondern auch mit den Folgen der Armut ihrer Nachbarn.“ Seit den 1980er Jahren unterschieden sich auch die Wohngebiete in Großbritannien nach dem wirtschaftlichen Status ihrer Anwohner. Wer aufsteigt, zieht um. Pierre Bourdieu hat in seinem Buch „Die feinen Unterschiede“ auch die kulturellen Distinktionsmerkmale beschrieben. Wir schätzen Menschen ein: „Wie reden sie, wie sind sie angezogen, was lesen sie, welche Fernsehsendungen sehen sie, was essen sie, welchen Sport treiben sie, welche Musik hören sie, lieben sie Kunst, und wenn ja, welche?“ Über die gesamte soziale Stufenleiter werden auch Vorurteile und Diskriminierung gegen die jeweils niedrigeren Schichten eingesetzt, um sie am sozialen Aufstieg zu hindern. Die Eliten sichern ihren privielgierten Status ab. Nur durch immer neue Abgrenzung erhalten sie ihren elitären Status. „Statusunterschiede werden umso wichtiger, je größer die materielle Ungleichheit ist.(…) Tatsächlich nehmen die sozialen Vorurteile der oberen Schichten gegen die unteren Schichten mit wachsender Ungleichheit weiter zu. Die Vermögenden sichern ihren sozialen Status, indem sie den Schwächeren ihre Überlegenheit zeigen.“ Stigmatisierten Gruppen in Gesellschaften mit großer Ungleichheit geht es manchmal besser, wenn sie abseits der Menschen leben, von denen sie verachtet werden. Das zeigten etwa Studien in London, dass unter ethnischen Minderheiten, die in gemischten Wohngebieten lebten, mehr Fälle von Schizophrenie auftraten. Ihnen war in den Viertel wohl bewusst, zu einer Minderheit mit geringem Sozialstatus zu gehören. Wichtig sind also sozialer Rückhalt und Freundschaften. Und es zeigt, welche Rolle Sozialangst und Stigmatisierung spielen können.

Es muss vor allem darum gehen, die dramatisch steigende Erderwärmung zu verhindern. Insbesondere der von Statuskonkurrenz angestachelte private Konsum müsste reduziert werden. „Je reicher die Bevölkerung eines Landes ist und je mehr sie konsumiert, desto mehr trägt sie zur Erderwärmung bei.“ Wir müssen uns in Richtung einer „Wirtschaft jenseits von Wachstum“ bewegen. Mehr Gleichheit sei die Voraussetzung für eine Wirtschaft ohne Wachstum. Mehr Gleichheit verringert den Konsumdruck. „Je mehr Einkommensgleichheit, umso weniger brauchen wir die Ersatzdroge.“ Andererseits je mehr die Ungleichheit die Statuskonkurrenz anheizt, umso mehr müssen wir uns anstrengen, mitzuhalten. Es geht nur um den sozialen Unterschied, die Distinktion. In Ländern mit größerer sozialer Ungleichheit sind auch die Arbeitszeiten länger.

Kritik:
Die Autoren schreiben: „Wir brauchen keinen revolutionären Umsturz“. Aber es sei eine Transformation notwendig. Den Menschen müßten die Ängste genommen werden. Man müsse sie überzeugen, dass eine Gesellschaft mit mehr Gleichheit ihnen ein erfülltes Leben ermöglicht.
„Mehr Gleichheit ist der Königsweg in eine zukunftsfähige Gesellschaft, in der sich die Lebensqualität aller Mitglieder verbessern lässt, und es ist der Weg zu einem Wirtschaftssystem, das Nachhaltigkeitsprinzipien genügt.“ Es müsse der politische Wille gestärkt werden, mehr Gleichheit in der Gesellschaft zu realisieren.
Das alles klingt naiv, denn es gibt mächtige Interessen, die dem entgegen stehen. Es ist ja noch nicht einmal eine gerechtere Steuerpolitik politisch erwünscht. Also noch nicht einmal kleine Schritte.
Auch ihre Kenntnisse über Alternativen sind dünn. Die Alternativendiskussion in der Linken ist viel weiter: Solidarische Ökonomie, degrowth, commons, Umcare etc.
Hilfreich wäre auch ein Kapitel zu Gleichheit im Realsozialismus gewesen. Dort wurde oftmals die Individualität unterdrückt und es gab immer noch Differenzen (z.B. Bildungsprivilegien, Spaltung der Gesellschaft nach Besitz von Westgeld und Westwaren) Auch die Formel, Gleichheit ließe sich nur auf Kosten der Freiheit realisieren, hält sich immer noch.
Auch die „gleicheren“ skandinavischen Länder betreiben mittlerweile Sozialabbau und der Rechtspopulismus grassiert dort ebenfalls.
Trotzdem ist das Buch lesenswert. Es werden viele Studien vorgestellt. Forschungsergebnisse, Tabellen, Schaubilder und andere Informationen stellen sie auf folgender Website zur Verfügung:
http://www.equalitytrust.org.uk

Richard Wilkinson, Kate Pickett, Gleichheit ist Glück, Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Berlin 2012

Gleichheit ist Glück TEIL1

In dem Buch „Gleichheit ist Glück“ von Richard Wilkinson und Kate Picket wird untersucht, welche Folgen die soziale Ungleichheit für Gesellschaften hat.

Wirtschaftswachstum und steigende Durchschnittseinkommen können in den reichen Ländern kaum noch etwas zum Wohlbefinden der Bevölkerung beitragen. Aber innerhalb einer Gesellschaft besteht ein enger Zusammenhang zwischen gesundheitlichen sowie sozialen Problemen und Einkommensniveau. Die größte Einkommensschere war laut Buch in den USA, Großbritannien, Potugal und Singapur zu beobachten. Japan und die skandinavischen Länder hatten die geringste Ungleichheit. In den Ländern mit einer weit geöffneten Einkommensschere kamen gesundheitliche und soziale Probleme häufiger vor. Diese Probleme traten in jeder Gesellschaft in den ärmeren Schichten am häufigsten auf. „Entscheidend ist, wie groß der Abstand des Einzelnen zu den anderen Mitgliedern seiner Gesellschaft ist.“ Entscheidend „ist auch der soziale Druck, trotz aller Ungleichheit mithalten zu können“. Je höher die Einkommensunterschiede sind, desto entscheidender ist es, welcher Schicht man angehört. Strukturelle Einkommensunterschiede werden von Feindifferenzierungen überlagert, wie Kleidung, Geschmack, Bildung, Selbstbewusstsein und all die anderen Kennzeichen der Schichtzugehörigkeit. „Materielle Unterschiede bilden die Rahmenstruktur für soziale Distinktion.(…) Welche Waren man kauft, ist oft nur von deren Bedeutung für Status und Identität bestimmt.“ Der gesellschaftliche Bewertungsdruck nimmt zu. Damit einher geht die Zunahme des Narzissmus. Ein geringer sozialer Status hat wiederum eine negative Wirkung auf das Selbstvertrauen des Einzelnen. „Ein hoher sozialer Status wird meist assoziiert mit Überlegenheit, Kompetenz und Erfolg. Je höher man in der sozialen Rangordnung aufsteigt, umso leichter fällt es, Stolz, Würde und Selbstvertrauen zu entwickeln. Welche Kriterien man auch zugrunde legt- ob Vermögen, Ausbildung, berufliche Position, Wohnort, Ferienziele oder andere Zeichen des Erfolgs-, im sozialen Vergleich steht man immer besser da.“ Die mit dem höheren sozialen Status sind stolz, die mit dem geringeren sozialen Status schämen sich. „Wissenschaftliche Untersuchungen geben Aufschluss: Menschen mit geringem sozialen Status, mit wenigen Freunden und einer problematischen Kindheit sind in der heutigen Gesellschaft besonders häufig psychischem Stress ausgesetzt.“ Der Anpassungsdruck ist stark geworden. Die Menschen sind ständig in Sorge, einen schlechten Eindruck zu hinterlassen. Wie werden wir eingestuft? Haben wir uns gut verkauft? Das trägt wiederum zu dem weit verbreiteten Konsumdenken bei.
„Welchen Status und welches Wohlstandsniveau ein Mensch erreicht (von ungelernter, schlecht bezahlter Arbeit bis zu Erfolg, hohem Einkommen und Führungsposition), ist kein isoliertes Phänomen, es prägt nicht nur das Selbstgefühl, sondern eben auch das Bild, das sich andere- selbst Freunde und die eigene Familie- von einer Person machen.“ Nichts bringt Über- oder Unterlegenheit deutlicher zum Ausdruck, wie der soziale Status. „Weil mehr Ungleichverteilung dem sozialen Status größeres Gewicht verleiht, steigert sie offenbar auch die Ängste der Menschen bezüglich ihrer sozialen Bewertung: Je größer die Statusunterschiede, um so wichtiger wird es für uns, wie wir uns gegenseitig einschätzen.“ Der erste Eindruck entscheidet. Soziale Bewertungen machen uns Angst. „Größere Ungleichheit bedeutet verschärfte Statuskonkurrenz und mehr soziale Ängste.“ Da mehr Ungleichheit zu mehr sozialem Bewertungsdruck führen, braucht es „Strategien der Selbstdarstellung und Selbstbestätigung, die das Ego stützen sollen. Die Bescheidenheit kommt dabei unter die Räder. Der Mensch zeigt sich nach Außen immer härter und stärker, um seinen Versagensängsten zu begegnen.“
Wächst die Ungleichheit, so sinkt zwangsläufig auch das Niveau des Vertrauens. „Materielle Ungleichheit reißt soziale Gräben auf.“ Gleichheit ist die Vorbedingung für Vertrauen. Ungleichheit führt zur Distanznahme zwischen sozialen Gruppen. „Die Menschen sind weniger geneigt, andere als ‚ihresgleichen‘ anzuerkennen.“ Die Menschen vergleichen sich mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft . Es zählt die Distinktion- man will seinen Platz in der Hackordnung erobern bzw. behaupten.

Ungleichheit und seelische Gesundheit

Nach Schätzungen leiden in Großbritannien eine Million Kinder an psychischen Störungen. Und die Zahl der Kinder mit psychischen Problemen nimmt noch zu: „Mehr als ein Viertel fühlt sich häufig niedergeschlagen, zumeist wegen familiärer Zerwürfnisse und wegen des Konkurrenzdrucks unter Gleichaltrigen.“ Im Jahre 2008 litt in den USA jeder vierte Erwachsene an psychischen Problemen, ein Viertel davon hatte ernsthafte Erkrankungen. Im Lauf des Lebens wird mehr als jeder 2. US-Amerikaner psychisch krank. „In Ländern mit größerer Ungleichheit leidet ein viel höherer Anteil der Bevölkerung an psychischen Erkrankungen.“ Vor allem Angstzustände haben stark zugenommen. Bei Frauen und Kindern zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und psychischen Erkrankungen. In der Regel zeigt sich eine zunehmende Häufigkeit in den unteren Gesellschaftsschichten. Vor allem plagt Menschen die „Statusangst“. „Jeder will mithalten, um keinen Preis will man den Anschluss an die besseren Kreise verlieren.“
Psychische Krankheiten werden durch soziale Ungleichheit verursacht.

Richard Wilkinson, Kate Pickett, Gleichheit ist Glück, Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Berlin 2012