Das 841seitige Buch „Der Hunger“ des Schriftstellers und Journalisten Martin Capparos, geboren 1957 in Buenos Aires, ist ein zugleich erschreckendes und grandioses Werk. Der Autor mischt in seiner breit angelegten Darstellung Reportage, Kulturgeschichte, Essay und Streitschrift. Sein Bericht führt uns nach Niger, Indien, Bangladesh, in die USA, nach Argentinien, in den Südsudan und nach Madagaska.
Die Geschicklichkeit im Kampf gegen den Hunger ist einer der Hauptgründe, warum die Bevölkerungszahl innerhalb von hunderttausend Jahren auf aktuell sieben Milliarden angewachsen ist. „Seit Beginn der Zivilisation war der Hunger eine der mächtigsten Waffen, eine extreme Form der Machtausübung.“
Indien
In Kalkutta mit 15 Millionen Menschen haben wir auf der einen Seite die moderne Handelsmetropole, auf der anderen das Elend der Abertausenden. „Die Straßen existieren als Räume, damit Abertausende Menschen ihren Lebensunterhalt mit dem Handeln verdienen.“
„Fleisch zu essen ist fast immer ein Luxus (…) Reis macht die Hälfte der Nahrung aus, die wir sieben Millionen Menschen jeden Tag zu uns nehmen. Reis.“
Fleisch zu essen ist erstrebenswert, denn damit zeigt man, dass man im Wohlstand lebt.
75 Prozent der Tiernahrung besteht aus Soja, Mais und Getreide. Um ein Kilo Mais zu produzieren, benötigt man 1500 Liter Wasser, 15 000 für ein Kilo Rind.
„Ein Mensch, der Fleisch isst, verschlingt Ressourcen, die, würden sie verteilt, für fünf oder zehn Menschen ausreichen würden. Fleisch zu essen ist eine brutale Form von Ungleichheit (…) Fleisch zu essen ist brutales Machtgehabe (…) In den letzten Jahrzehnten ist der Fleischkonsum doppelt so stark angestiegen wie die Weltbevölkerung, der Konsum von Eiern dreimal so stark. Um 1950 wurden auf der Welt etwa 50 Millionen Tonnen Fleisch pro Jahr gegessen; jetzt sind es fast sechsmal mehr- und man schätzt, dass sich die Zahl bis 2030 noch mal verdoppeln wird. Die Viehzucht beansprucht bereits 80 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche der Welt, 40 Prozent der weltweiten Getreideproduktion und 10 Prozent des Wassers der Erde. Fleisch ist ein mächtiger Faktor. Fleisch ist die perfekte Metapher für Ungleichheit.“
Exklusion ist die Bedingung, dass das funktioniert. Die Welt kann nur genutzt werden, wenn das einige wenige tun.
In Indien glaubt die Mehrzahl der Vegetarier, das sei ihre freie Entscheidung. Wunder der Ideologie.
Der Autor kritisiert Mutter Teresa und das Christentum. Aber der Hinduismus stelle alles in den Schatten, um die Armen ruhigzustellen.
Wenn einer am Hungertuch nagt, muss er daran glauben, dass es eine höhere Ordnung gibt, was die Situation erklärt oder rechtfertigt. Die hinduistische Kultur sagt: „Wenn jemand arm ist, leidet und hungert, dann ist das der am eigenen Leib erfahrene Preis für Fehler in früheren Leben. Es ist seine Schuld, kurzum: sein Problem. Diese Logik nennt sich Karma…“ Es ist die beste Erfindung dieser jahrtausendalten verschlagenen Kultur, die es einer kleinen Gruppe von Machthabern gestattet, viele Millionen vor sich hin vegetierender Bettler zu kontrollieren.
Der Hunger ist eine große Stütze des Glaubens.
Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) hat es geschafft, die Zahl der weltweit Unterernährten deutlich zu verringern, indem sie die Berechnungsmethode verändert hat. 1970 wurde die Zahl mit 460 Millionen Hungernden angegeben. 1989 gab es demnach 786 Millionen Hungernde. 1990 revidierte die FAO alle vorhergehenden Berechnungen. Jetzt stellte man für 1970 eine höhere Zahl an Hungernden fest und erreichte damit eine Reduktion. Ein großer Erfolg…“Wir haben so viel erreicht. Auch das gehört zum Kampf gegen den Hunger.“
Heute gibt es demnach 795 Millionen Menschen, die hungern. Das ist einer von neun Menschen. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt im Elend, ihre Nahrung ist unzureichend.
In der Anderen Welt leben Menschen in 48 Ländern, darunter 34 afrikanische Länder, elf Prozent der Weltbevölkerung, die zusammen über 0,5 Prozent des globalen Vermögens verfügen. Als Andere Welt können die ca. 125 Länder gelten, deren jährliches Bruttoninlandsprodukt geringer ist als das Vermögen des jeweils reichsten Mannes der Welt. Auch in Ländern wie China, Indien, Brasilien, Russland und Südafrika versinkt ein riesengroßer Teil der Bevölkerung im Elend. Oder selbst die Armen in den reichen Ländern leben in der Anderen Welt. 780 Millionen der Hungernden leben in der Anderen Welt.
Heutzutage ist der Hunger still. „Die, die nichts zu essen haben, schweigen gewöhnlich. Oder sie reden dort. Oder sie reden dort, wo niemand sie hört.“
„Von den 780 Millionen Unterernährten der Anderen Welt sind 50 Millionen Opfer einer Ausnahmesituation: eines bewaffneten Konflikts, einer erbarmungslosen Diktatur, einer Natur- oder Klimakatastrophe- Dürren, Überschwemmungen, Erdbeben. Bleiben 730 Millionen, die nicht aufgrund einer Ausnahmesituation hungern, sondern nur weil sie Teil einer sozialen und wirtschaftlichen Ordnung sind, die ihnen die Möglichkeit verwehrt, sich zu ernähren. Laut der FAO sind 50 Prozent der Hungernden auf der Welt Kleinbauern mit einem Stück Land, 20 Prozent Landarbeiter ohne Land, 20 Prozent arme Städter und 10 Prozent Hirten, Fischer, Sammler.“
2007 lebten schätzungsweise erstmals in der Geschichte mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Von den 1,2 Milliarden Menschen, die 2010 in extremer Armut lebten, lebten ¾ auf dem Land.
Der Hunger ist die größte Bedrohung für die Gesundheit der Bewohner der anderen Welt. „Der Hunger ist einer der Hauptgründe, die erklären, warum die durchschnittliche Lebenserwartung in Spanien 82 und in Mosambik 50 Jahre beträgt, in Japan 83 und in Sambia 57: Die einen haben allein deshalb die Chance, doppelt so lange zu leben, weil sie an einem anderen Ort, in einer anderen Gesellschaft geboren wurden. Eine brutalere Form von Ungerechtigkeit fällt mir nicht ein.“
Ein Viertel der Hungernden der Welt lebt in Indien. In Indien haben sie sich daran gewöhnt, nichts zu essen. Man sieht Millionen kleine, dünne, genügsame Körper. Chronische Unterernährung. Geschrumpfte Körper, defizitärer Verstand. „Millionen Menschen vergeuden ihr Leben, um weiterzuleben.“
Ärzte ohne Grenzen führt den schwierigsten Kampf gegen die Weigerung der Eltern der Patienten und Patienten etwas als Krankheit anzusehen, das ihnen als Normalzustand erscheint. Die an der Unterernährung leiden, erkennen das nicht einmal. Sie wissen nicht, dass es ein anderes Leben geben kann.
Im Westen wurden Fitnessprogramme erfunden, um den Körper zu überlisten. In Indien dienen die Körper immer noch als Arbeitswerkzeug. Je ärmer der Mensch ist, desto mehr muss der Körper arbeiten.
„Das Leben dieser Menschen- ihre Geschichten- verlaufen zudem eintönig, ohne große Überraschungen. Ein langsamer Niedergang, ein Absturz in Zeitlupe.“
In diesem Buch passiert nichts, was nicht ständig passiert. „Das Schwierigste an diesem Buch ist, die Menge, das Ausmaß zu erfassen; zu verstehen (…) dass jede dieser Geschichten Abertausenden von Menschen widerfahren kann…“
In Indien gibt es keinen Nahrungsmangel, jedes Jahr werden 50 bis 60 Millionen Tonnen Überschuss exportiert, während 250 Millionen Menschen hungern
Der Autor übt zwar Kritik an Monsanto, ein Konzern, der neunzig Prozent des Weltmarktes für gentechnisch verändertes Saatgut kontrolliert, mit der Gentechnik scheint er aber weniger Probleme zu haben. „Das Problem ist nicht der Wandel des Produktionsmodells. Das Problem ist, wer daran verdient (…) ohne diese Techniken werden viele Millionen Schwierigkeiten haben, sich zu ernähren.“
Die Funktionsweise des Kapitalismus kompakt zusammengefasst: Wissenschaftler entwickeln neue Verfahren, von denen Millionen Menschen profitieren könnten. Aber sie arbeiten für private Unternehmen und so bleibt der Gewinn bei den Unternehmen. Und im Hintergrund gewährleistet der Staat, dass ihnen dieser Gewinn auch zufließt: Durch das Patentrecht ist sichergestellt, dass alle dafür zahlen. In diesem Denkschema ist der technische Fortschritt kein Versuch, das Leben zu verbessern, sondern das Bestreben, einige wenige noch reicher zu machen.“
Avani lebt mit ihren drei Kindern auf der Straße in Bombay. Wenn sie keine Arbeit findet, leben sie von Abfällen. Zur Not will sie ihre Niere verkaufen, denn das machen viele. „Ihr Haus besteht aus zwei Pappwänden, die hinten an eine Hausmauer angelehnt sind, nach vorne ist es offen: zur Straße, zur Stadt. Eine schwarze Plastikplane als Dach, darunter zwei Holzpritschen und ein paar Töpfe. Tagsüber entfernt Avani die Plane und die Wände, damit die Nachbarn sich nicht beschweren, abends baut sie ihr Haus wieder auf: jeden Abend aufs Neue.“
„Die Elendsviertel sind ein Produkt der industriellen Revolution (…) Aktuell gibt es etwa 250 000 Elendsviertel auf der Welt; laut UNO leben dort 1,2 Milliarden Menschen. Eins von fünf Kindern auf der Welt ist ein Slumbewohner, drei von vier Stadtbewohnern der Anderen Welt leben in einem Elendsviertel. Viele von ihnen leiden Hunger.“
„Sechzig Prozent der Bevölkerung Bombays leben auf sechs Prozent der Fläche, ohne fließendes Wasser, ohne Straßen, ohne Toiletten.“
Aufgrund des Wandels der landwirtschaftlichen Produktion werden immer weniger Arbeitskräfte gebraucht. Die Überflüssigen werden vertrieben, das führt zur Urbanisierung. Das Elend überträgt sich rasch auf die Städte.
„Ein Elendsviertel ist vor allem ein Ort, wo der Staat nicht funktioniert. Es gibt kein Licht, kein Wasser, keine Straßen, keine Polizei, keine Schulen.“
Und übrigens gibt es in Indien 53 Milliardäre, die über ein Gesamtkapital von 341 Milliarden Dollar verfügen. Auf der anderen Seite leben 836 Millionen Menschen von weniger als 20 Rupien am Tag.