Der Hunger Teil 3

Das 841seitige Buch „Der Hunger“ des Schriftstellers und Journalisten Martin Capparos, geboren 1957 in Buenos Aires, ist ein zugleich erschreckendes und grandioses Werk. Der Autor mischt in seiner breit angelegten Darstellung Reportage, Kulturgeschichte, Essay und Streitschrift. Sein Bericht führt uns nach Niger, Indien, Bangladesh, in die USA, nach Argentinien, in den Südsudan und nach Madagaska.

Die Geschicklichkeit im Kampf gegen den Hunger ist einer der Hauptgründe, warum die Bevölkerungszahl innerhalb von hunderttausend Jahren auf aktuell sieben Milliarden angewachsen ist. „Seit Beginn der Zivilisation war der Hunger eine der mächtigsten Waffen, eine extreme Form der Machtausübung.“

Indien

In Kalkutta mit 15 Millionen Menschen haben wir auf der einen Seite die moderne Handelsmetropole, auf der anderen das Elend der Abertausenden. „Die Straßen existieren als Räume, damit Abertausende Menschen ihren Lebensunterhalt mit dem Handeln verdienen.“

„Fleisch zu essen ist fast immer ein Luxus (…) Reis macht die Hälfte der Nahrung aus, die wir sieben Millionen Menschen jeden Tag zu uns nehmen. Reis.“
Fleisch zu essen ist erstrebenswert, denn damit zeigt man, dass man im Wohlstand lebt.

75 Prozent der Tiernahrung besteht aus Soja, Mais und Getreide. Um ein Kilo Mais zu produzieren, benötigt man 1500 Liter Wasser, 15 000 für ein Kilo Rind.
„Ein Mensch, der Fleisch isst, verschlingt Ressourcen, die, würden sie verteilt, für fünf oder zehn Menschen ausreichen würden. Fleisch zu essen ist eine brutale Form von Ungleichheit (…) Fleisch zu essen ist brutales Machtgehabe (…) In den letzten Jahrzehnten ist der Fleischkonsum doppelt so stark angestiegen wie die Weltbevölkerung, der Konsum von Eiern dreimal so stark. Um 1950 wurden auf der Welt etwa 50 Millionen Tonnen Fleisch pro Jahr gegessen; jetzt sind es fast sechsmal mehr- und man schätzt, dass sich die Zahl bis 2030 noch mal verdoppeln wird. Die Viehzucht beansprucht bereits 80 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche der Welt, 40 Prozent der weltweiten Getreideproduktion und 10 Prozent des Wassers der Erde. Fleisch ist ein mächtiger Faktor. Fleisch ist die perfekte Metapher für Ungleichheit.“
Exklusion ist die Bedingung, dass das funktioniert. Die Welt kann nur genutzt werden, wenn das einige wenige tun.

In Indien glaubt die Mehrzahl der Vegetarier, das sei ihre freie Entscheidung. Wunder der Ideologie.
Der Autor kritisiert Mutter Teresa und das Christentum. Aber der Hinduismus stelle alles in den Schatten, um die Armen ruhigzustellen.
Wenn einer am Hungertuch nagt, muss er daran glauben, dass es eine höhere Ordnung gibt, was die Situation erklärt oder rechtfertigt. Die hinduistische Kultur sagt: „Wenn jemand arm ist, leidet und hungert, dann ist das der am eigenen Leib erfahrene Preis für Fehler in früheren Leben. Es ist seine Schuld, kurzum: sein Problem. Diese Logik nennt sich Karma…“ Es ist die beste Erfindung dieser jahrtausendalten verschlagenen Kultur, die es einer kleinen Gruppe von Machthabern gestattet, viele Millionen vor sich hin vegetierender Bettler zu kontrollieren.

Der Hunger ist eine große Stütze des Glaubens.

Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) hat es geschafft, die Zahl der weltweit Unterernährten deutlich zu verringern, indem sie die Berechnungsmethode verändert hat. 1970 wurde die Zahl mit 460 Millionen Hungernden angegeben. 1989 gab es demnach 786 Millionen Hungernde. 1990 revidierte die FAO alle vorhergehenden Berechnungen. Jetzt stellte man für 1970 eine höhere Zahl an Hungernden fest und erreichte damit eine Reduktion. Ein großer Erfolg…“Wir haben so viel erreicht. Auch das gehört zum Kampf gegen den Hunger.“
Heute gibt es demnach 795 Millionen Menschen, die hungern. Das ist einer von neun Menschen. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt im Elend, ihre Nahrung ist unzureichend.

In der Anderen Welt leben Menschen in 48 Ländern, darunter 34 afrikanische Länder, elf Prozent der Weltbevölkerung, die zusammen über 0,5 Prozent des globalen Vermögens verfügen. Als Andere Welt können die ca. 125 Länder gelten, deren jährliches Bruttoninlandsprodukt geringer ist als das Vermögen des jeweils reichsten Mannes der Welt. Auch in Ländern wie China, Indien, Brasilien, Russland und Südafrika versinkt ein riesengroßer Teil der Bevölkerung im Elend. Oder selbst die Armen in den reichen Ländern leben in der Anderen Welt. 780 Millionen der Hungernden leben in der Anderen Welt.

Heutzutage ist der Hunger still. „Die, die nichts zu essen haben, schweigen gewöhnlich. Oder sie reden dort. Oder sie reden dort, wo niemand sie hört.“

„Von den 780 Millionen Unterernährten der Anderen Welt sind 50 Millionen Opfer einer Ausnahmesituation: eines bewaffneten Konflikts, einer erbarmungslosen Diktatur, einer Natur- oder Klimakatastrophe- Dürren, Überschwemmungen, Erdbeben. Bleiben 730 Millionen, die nicht aufgrund einer Ausnahmesituation hungern, sondern nur weil sie Teil einer sozialen und wirtschaftlichen Ordnung sind, die ihnen die Möglichkeit verwehrt, sich zu ernähren. Laut der FAO sind 50 Prozent der Hungernden auf der Welt Kleinbauern mit einem Stück Land, 20 Prozent Landarbeiter ohne Land, 20 Prozent arme Städter und 10 Prozent Hirten, Fischer, Sammler.“

2007 lebten schätzungsweise erstmals in der Geschichte mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Von den 1,2 Milliarden Menschen, die 2010 in extremer Armut lebten, lebten ¾ auf dem Land.

Der Hunger ist die größte Bedrohung für die Gesundheit der Bewohner der anderen Welt. „Der Hunger ist einer der Hauptgründe, die erklären, warum die durchschnittliche Lebenserwartung in Spanien 82 und in Mosambik 50 Jahre beträgt, in Japan 83 und in Sambia 57: Die einen haben allein deshalb die Chance, doppelt so lange zu leben, weil sie an einem anderen Ort, in einer anderen Gesellschaft geboren wurden. Eine brutalere Form von Ungerechtigkeit fällt mir nicht ein.“

Ein Viertel der Hungernden der Welt lebt in Indien. In Indien haben sie sich daran gewöhnt, nichts zu essen. Man sieht Millionen kleine, dünne, genügsame Körper. Chronische Unterernährung. Geschrumpfte Körper, defizitärer Verstand. „Millionen Menschen vergeuden ihr Leben, um weiterzuleben.“

Ärzte ohne Grenzen führt den schwierigsten Kampf gegen die Weigerung der Eltern der Patienten und Patienten etwas als Krankheit anzusehen, das ihnen als Normalzustand erscheint. Die an der Unterernährung leiden, erkennen das nicht einmal. Sie wissen nicht, dass es ein anderes Leben geben kann.

Im Westen wurden Fitnessprogramme erfunden, um den Körper zu überlisten. In Indien dienen die Körper immer noch als Arbeitswerkzeug. Je ärmer der Mensch ist, desto mehr muss der Körper arbeiten.

„Das Leben dieser Menschen- ihre Geschichten- verlaufen zudem eintönig, ohne große Überraschungen. Ein langsamer Niedergang, ein Absturz in Zeitlupe.“

In diesem Buch passiert nichts, was nicht ständig passiert. „Das Schwierigste an diesem Buch ist, die Menge, das Ausmaß zu erfassen; zu verstehen (…) dass jede dieser Geschichten Abertausenden von Menschen widerfahren kann…“

In Indien gibt es keinen Nahrungsmangel, jedes Jahr werden 50 bis 60 Millionen Tonnen Überschuss exportiert, während 250 Millionen Menschen hungern

Der Autor übt zwar Kritik an Monsanto, ein Konzern, der neunzig Prozent des Weltmarktes für gentechnisch verändertes Saatgut kontrolliert, mit der Gentechnik scheint er aber weniger Probleme zu haben. „Das Problem ist nicht der Wandel des Produktionsmodells. Das Problem ist, wer daran verdient (…) ohne diese Techniken werden viele Millionen Schwierigkeiten haben, sich zu ernähren.“

Die Funktionsweise des Kapitalismus kompakt zusammengefasst: Wissenschaftler entwickeln neue Verfahren, von denen Millionen Menschen profitieren könnten. Aber sie arbeiten für private Unternehmen und so bleibt der Gewinn bei den Unternehmen. Und im Hintergrund gewährleistet der Staat, dass ihnen dieser Gewinn auch zufließt: Durch das Patentrecht ist sichergestellt, dass alle dafür zahlen. In diesem Denkschema ist der technische Fortschritt kein Versuch, das Leben zu verbessern, sondern das Bestreben, einige wenige noch reicher zu machen.“

Avani lebt mit ihren drei Kindern auf der Straße in Bombay. Wenn sie keine Arbeit findet, leben sie von Abfällen. Zur Not will sie ihre Niere verkaufen, denn das machen viele. „Ihr Haus besteht aus zwei Pappwänden, die hinten an eine Hausmauer angelehnt sind, nach vorne ist es offen: zur Straße, zur Stadt. Eine schwarze Plastikplane als Dach, darunter zwei Holzpritschen und ein paar Töpfe. Tagsüber entfernt Avani die Plane und die Wände, damit die Nachbarn sich nicht beschweren, abends baut sie ihr Haus wieder auf: jeden Abend aufs Neue.“

„Die Elendsviertel sind ein Produkt der industriellen Revolution (…) Aktuell gibt es etwa 250 000 Elendsviertel auf der Welt; laut UNO leben dort 1,2 Milliarden Menschen. Eins von fünf Kindern auf der Welt ist ein Slumbewohner, drei von vier Stadtbewohnern der Anderen Welt leben in einem Elendsviertel. Viele von ihnen leiden Hunger.“

„Sechzig Prozent der Bevölkerung Bombays leben auf sechs Prozent der Fläche, ohne fließendes Wasser, ohne Straßen, ohne Toiletten.“

Aufgrund des Wandels der landwirtschaftlichen Produktion werden immer weniger Arbeitskräfte gebraucht. Die Überflüssigen werden vertrieben, das führt zur Urbanisierung. Das Elend überträgt sich rasch auf die Städte.

„Ein Elendsviertel ist vor allem ein Ort, wo der Staat nicht funktioniert. Es gibt kein Licht, kein Wasser, keine Straßen, keine Polizei, keine Schulen.“

Und übrigens gibt es in Indien 53 Milliardäre, die über ein Gesamtkapital von 341 Milliarden Dollar verfügen. Auf der anderen Seite leben 836 Millionen Menschen von weniger als 20 Rupien am Tag.

Der Hunger Teil 2

Das 841seitige Buch „Der Hunger“ des Schriftstellers und Journalisten Martin Capparos, geboren 1957 in Buenos Aires, ist ein zugleich erschreckendes und grandioses Werk. Der Autor mischt in seiner breit angelegten Darstellung Reportage, Kulturgeschichte, Essay und Streitschrift. Sein Bericht führt uns nach Niger, Indien, Bangladesh, in die USA, nach Argentinien, in den Südsudan und nach Madagaska.

Laut Oxfam- Bericht vom Januar 2015 besaßen ein Prozent der Weltbevölkerung knapp die Hälfte des globalen Vermögens. Also 70 Millionen Menschen besaßen soviel wie die übrigen 7 Milliarden Menschen. Die 80 reichsten Menschen besaßen genau so viel wie die 3,5 Milliarden ärmsten Menschen. Inzwischen macht die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich auch Herrschenden Sorge. Denn wenn diese Ungleichheit weiter wachse, könnte das die Rufe nach Veränderung stärken und zu politischen Ergebnissen führen. So heißt es Ende 2012 im Economist: „Der Kommunismus wird nicht wieder aufleben. Aber es gibt noch etliche schlechte Ideen da draußen.“
Warren Buffett, der drittreichste Mensch der Welt, sagte 2011: „Zwanzig Jahre lang hat ein Klassenkampf getobt, und meine Klasse hat gewonnen.“
2009 überschritt die Zahl der Unterernährten erstmals in der Geschichte die plakative Marke von einer Milliarde. Im Herbst 2008 brachen Banken zusammen und die Regierungen brachten innerhalb weniger Monate drei Billionen Dollar auf, um diese zu retten. Die Hungernden vergaßen sie. Während die Banken für die Aufrechterhaltung des Systems unerlässlich sind, sind die Hungernden eher ein Klotz am Bein. Die Staaten sind den Reichen hörig, die Armen sind überflüssig.
Während der 11. September 2001 mit fast 3000 Toten dazu diente, eine massive Verschärfung der sozialen Kontrolle und Repression zu rechtfertigen, erfüllen die 25 000 täglich Verhungernden oder an den Folgen des Hungers Sterbenden keinen Zweck, den man öffentlich kundtun könnte. Dagegen ist das gleiche Recht für alle, täglich zu essen, ein bescheidener Anspruch.

Argentinien: Der Müll

„Gerade in Argentinien hatten die Armen während eines Großteils des 20. Jahrhunderts einen Platz: als Arbeiter. Der industrielle Kapitalismus brauchte sie (…).“ Die Gesellschaft wusste noch, wozu die Armen nützlich waren. Als Argentinien in ein „Sojaparadies“ umgewandelt wurde, wurden gleichzeitig Millionen Menschen arbeitslos, nutzlos, überflüssig.
„Was sie damit jedoch erreicht haben, ist, dass die Bedrohung durch die organisierte Gewalt der Arbeiterschaft durch die desorganisierte Gewalt der Slumbewohner abgelöst wurde: eine individualisierte, chaotische, unvorhersehbare Gewalt, die sich in alle möglichen Richtungen entladen kann. Und jetzt beklagen sie sich. (…) Der Ausschluss der Armen hat die Gewalt geschaffen- die fundamentale Gewalt, die darin besteht, kein Ziel, keine Zukunft zu haben.“

Diese Gewalt entlädt sich auch auf der Mülldeponie in Jose Leon Suarez. Wenn sich einmal am Tag für eine Dreiviertelstunde die Schranke öffnet, laufen die Menschenmassen auf den riesigen Abfallberg zu, der von Polizisten bewacht wird. „Es ist eine individuelle Arbeit: jeder für sich. Oder besser gesagt: purer Wettbewerb.“ Die Stadt Buenos Aires produziert täglich 6500 Tonnen Abfall. Es herrscht bestialischer Gestank. Die Umgebung der Deponie wurde nach und nach besiedelt. Das Müllsammeln ist eine Einnahmequelle. Jose, ein Müllsammler sagt: „Nicht nur, dass sie alles wegwerfen, sie fahren auch noch mit der Planierraupe drüber, um es endgültig ungenießbar zu machen. Und wir müssen in den kümmerlichen Resten rumwühlen. Die Supermärkte schmeißen das weg, um die Versicherungssummen zu kassieren, nicht weil es schlecht oder abgelaufen wäre. Das ist ein großes Geschäft mit dem Müll. Alles ein einziges Geschäft.“
Etwa die Hälfte der weltweit produzierten Nahrung wird gar nicht verzehrt. „In den reichen Ländern verdirbt die Ware in den Kühltruhen oder Regalen der Supermärkte, den Lagern der Restaurants, vor allem aber in den Kühlschränken und Speisekammern der Verbraucher.“ Dreißig bis fünfzig Prozent der gekauften Waren werden weggeworfen. Eine Auswirkung des Überangebotes. Was einigen fehlt, haben andere im Überfluss. Bei den Müllsammlern ist es der Kampf ums Überleben. Der Müllsammler Jose sagt: „Das nenn ich verkehrte Welt, mein Freund. Anstatt es den Leuten zu geben, werfen sie es hier auf die Deponie, nur damit die Preise nicht sinken.“
Maria beginnt um 8 Uhr in einer Volksküche zu arbeiten. Sie macht sich Sorgen wegen der Diebstähle und der Auflösung sozialer Netzwerke. Einer Mentalität „Rette sich wer kann“ oder „Alle gegen alle“. 12 Prozent der Argentinier essen in Volksküchen. Im Großraum Buenos Aires gibt es Hunderte vielleicht sogar zwei- oder dreitausend. Keiner weiß es genau. Die Leute schämen sich und schicken ihre Kinder, um Essen abzuholen. Abends geht Marie früh zu Bett, denn im Dunkeln ist es nicht ratsam, das Haus zu verlassen.

Der Autor fragt: „Wie kann es sein, dass es in einem Land, das zu den größten Sojaproduzenten der Welt gehört, Hunger gibt?“
Argentinien produziert Nahrung für dreihundert Millionen Menschen und schafft es nicht, seine vierzig Millionen Bürger zu ernähren. Das Land ist einer der größten Exporteure von Sojaöl, Sojamehl, Sojabohnen und Mais. Das Land gründete auf der systematischen Vertreibung der Indios. Mit der Erfindung des Kühlschiffes war es möglich, Rindfleisch nach England zu transportieren. Das erste Goldene Zeitalter der Exportwirtschaft brach an. 1976 erhielt die Junta die Anweisung von US- Außenminister Kissinger, dass sie „die staatliche Einmischung in die Wirtschaft deutlich zurückfährt, den Export fördert, sich wieder dem in Vergessenheit geratenen Agrarsektor zuwendet und sich ausländischem Kapital gegenüber aufgeschlossen zeigt.“ Ende des 20. Jahrhunderts kündigte sich ein Wandel der europäischen Subventionspolitik an, die Qualität statt Quantität der Produkte wurde wichtiger. „Doch die Produktion sank ausgerechnet in dem Moment, als der Bedarf in China massiv stieg; dazu die erhöhte Nachfrage nach Agrotreibstoffen und die Spekulation auf dem Chicagoer Börsenparkett. Die Preise schossen in die Höhe, und nun waren plötzlich Flächen attraktiv, die lange als unrentabel gegolten hatten: Mit mehr Bewässerung, mit besseren Maschinen, dem neuen Saatgut, Dünger und Pestiziden ließ sich auch dort ordentlich Geld verdienen. Die neue Weltordnung der Nahrung verändert vieles: mein Land, zum Beispiel.“, so der Autor.
Ein Aktivist der Bauernbewegung sagt: „Soja macht alles zu einer einzigen Wüste (…) wenn das so weitergeht, gibt es bald keine Bauern, keine kleinen Erzeuger, mehr. Wir wandern alle als billige Arbeitskräfte in die Städte, wenn wir Glück haben, sonst sind wir arbeitslos.“ Die Bauern kamen vor hunderten Jahren, als die Indios vertrieben waren, jetzt werden sie zu den Vertriebenen. Die Spaltung hat zugenommen, dank des globalen Marktes geht es Hunderttausenden Argentinien besser, die anderen drängen sich in den Elendsvierteln. Argentinien ist wegen des Preisanstieges von Getreide aus der Krise gekommen, aber gerade wegen dieser Preise verhungern Menschen- weltweit. „An dem Geld, auf dem unser neuer Wohlstand beruht, klebt Blut.“, so Caparros.

Entscheidend ist auch, dass sich das Essverhalten in China und Argentinien geändert hat. Die wachsende chinesische Mittelschicht isst jetzt Fleisch und Fisch. „Argentinien hat sich zu einem der großen Hotspots des globalen Agrargeschäfts gemausert- allerdings wandert die gesamte Produktion auf den Weltmarkt, genauer: zu Fischen und Schweinen in China. Soja, das in Argentinien nicht weiterverarbeitet, praktisch ohne Mehrwert exportiert wird: Der Großteil der fünfzig Millionen Tonnen wird dafür verwendet, Tiere zu füttern, die ihrerseits die neue chinesische Mittelklasse ernähren.“

Und was wird in Argentinien gegessen?
Martin Caparros schreibt: „Es gibt wenige Orte, an denen die soziale Ungleichheit so offenkundig zu tage tritt wie auf dem Esstisch- oder wo auch immer die Leute essen. Dabei war das Essen der Argentinier über Jahrzehnte überraschend egalitär. Die erste Erhebung mit verlässlichen Daten wurde 1965 von der Nationalen Entwicklungskommission veröffentlicht; sie zeigte, dass die Argentinier, egal ob reich oder arm, dasselbe aßen: rotes Fleisch, Milchprodukte, Obst und Gemüse, Nudeln und Brot, und zwar in ähnlichen Mengen.“ Eine Anthropologin stellt fest: „Es gab bestimmt auch Unterschiede in Preis und Geschmack, aber die Aufnahme von Proteinen war in allen Bereichen der Gesellschaft ähnlich- deshalb litten die Armen auch nicht an Mangelernährung.“
1985 begann das Modell zu bröckeln, 1996 bestätigte sich die neue Tendenz, dass sich das Essen der Armen radikal von dem der anderen unterscheidet. Jetzt gibt es Essen für Arme und Essen für Reiche. „Es ist keine Frage der Menge, sondern der Zusammensetzung: die Ober- und Mittelschicht essen Obst, Gemüse und Fleisch- eher weißes als rotes-, das erhält sie schlank und womöglich auch gesund; die Armen hingegen essen Kartoffeln, Reis und Nudeln- Zucker, Kohlenhydrate und Fett-, die ihren Magen füllen; sehr wenig Fleisch und sehr wenig Obst und Gemüse. Es ist eine rationale Entscheidung: Fleisch ist zu teuer, Obst und Gemüse ebenfalls, und zudem ist das Sättigungsgefühl weit geringer.“ Die Armen folgen einer anderen Logik, es geht darum, alle statt zu kriegen. Und die ganz Armen kochen nicht mit dem Ofen, das wäre teuer, sondern mit einer Herdplatte. Während also die Chinesen immer mehr Fleisch essen, hat einer von vier Argentinier aufgehört, regelmäßig das Nationalgericht schlechthin, nämlich Fleisch zu essen. Kinder, die nur Nudeln, Reis und Kartoffeln essen, sind chronisch mangelernährt.

Der harte Kern der Arbeitslosigkeit sind drei Millionen Menschen, 15 Prozent der Erwerbstätigen. „In Argentinien lebten fünf Prozent der Haushalte in `akuter Nahrungsunsicherheit` und weitere sieben in `moderater Nahrungsunsicherheit`. (…) Zwölf Prozent der Haushalte. Dazu natürlich diese acht Prozent aller argentinischen Kinder- eine Viertelmillion Kinder- die unter chronischer Mangelernährung leiden.“

Ein Professor an einer Katholischen Universität sagt, dass ein Teil der Bevölkerung absoluter Überschuss sei. Das seien etwa fünf oder sechs Millionen Menschen. Für das System wäre es fantastisch, wenn sie gingen. Er sagt: „Nun ja, man muss sie ernähren, damit es nicht zu einem sozialen Umsturz kommt und sich die Ausgegrenzten durch systematische Plünderungen holen, was ihnen zusteht und was der Staat ihnen verweigert (…) Ab welchem Punkt plündern die Leute die Supermärkte, wann zetteln sie politische Unruhen an? (…) Wo liegt das Maß für soziale Eindämmung, soziale Kontrolle? Wenn es richtig teuer wird, bekomme ich ein Problem. Zu viel kann ich auch nicht zahlen, denn ich muss es anderswo einsparen. Aber etwas muss ich zahlen, je weniger, desto besser.“

Der Autor schreibt dazu: „Der Trick funktioniert nicht nur in Argentinien. Die Strategie der Herrschenden bestand schon immer darin, die Beherrschten so klein wie möglich zu halten. Durch empirische Erhebungen herauszufinden, wo im Einzelfall das Minimum liegt: Trial und Error. Der Irrtum könnte in dem Fall darin bestehen, dass Tausende verhungern oder sich erheben und ihre Rechte einfordern. (…) Wenn eine Regierung Almosen an ihr Volk verteilt, hofft sie, das Volk damit unten, beherrschbar zu halten: wehrlos, stumm. (…) Man gibt den Armen das Allernötigste, damit sie überleben und nicht mit ihrem Blut oder ihren Knochen den Bildschirm beflecken. Viele überleben, andere nicht.“

Jahrelang hatte sich die Kirchner-Regierung geweigert, Geld ohne Gegenleistungen in Argentinien zu verteilen. Dann erhielten mehr als drei Millionen Kinder monatlich eine Pauschale von 40 Dollar. „Laut einer Umfrage des Gesundheitsministeriums erhalten 28 Prozent der argentinischen Haushalte Tüten und Kisten mit Nahrungsmitteln (…).“

Paola ist 27 und wurde von ihrem Stiefvater vom 7. bis 12. Lebensjahr sexuell mißbraucht. Später prostituierte sie sich. Sie hat drei Kinder, zwei sind bereits gestorben. Sie geht in eine Gemeinschaftsküche, um sich und ihre Kinder zu ernähren.

Früher schien der Hunger eine Notwendigkeit des Marktes zu sein, damit die Arbeiter fleißig zur Arbeit gingen. „Doch die Zeiten sind vorbei: Der Markt braucht diese Menschen nicht mehr, und so lange keine Lösung gefunden wird, besteht die einzige Form, sie am Leben zu erhalten, darin, kostenlos Essen an sie zu verteilen.“ , so der Autor.

Früher wartete die Reservearmee darauf, in den Arbeitsprozeß integriert zu werden. Jetzt wird eine überflüssige Masse auf Dauer stigmatisiert. Es gibt keine Umkehr mehr. Die CIA lies 2002 düster verlauten, dass ein Drittel der Weltarbeitskraft arbeitslos oder unterbeschäftigt sei. Früher hatten diese Armen eine Funktion, so in Indien, wo sie als extrem billige Arbeitskräfte die Reichen bedienten. Sie waren eine nützliche Reserve, um die Löhne auf niedrigstem Niveau zu halten. Heute sind Maschinen wesentlich effizienter und Arbeitskräfte überflüssig.
„Zum ersten Mal ist ein Sechstel oder ein Fünftel der Weltbevölkerung überflüssig. Weil es nicht gut ankäme, wenn man sie einfach sterben ließe, erhält man sie gerade so am Leben, sie nagen am Hungertuch, aber sie sterben nicht den Hungertod.“, so der Autor.
In Argentinien wurden Tausende Fabriken und Werkstätten geschlossen, die Mehrzahl der Hilfskräfte auf dem Land wurde durch Maschinen ersetzt.
„Und man hatte keinen blassen Schimmer, was man mit ihnen anfangen soll. Man würde doch gerne einmal Mäuschen spielen bei einer Sitzung argentinischer Bosse- der Reichen und ihrer Repräsentanten-, die zuvor ein Wahrheitsserum eingenommen haben. Vielleicht diskutieren sie dann ja darüber, wie man fünf oder sechs Millionen Menschen loswerden könnte.“
Sie versuchen es noch mit Hilfsprogrammen, aber es nervt, „wenn man nicht ohne Angst eine Runde um den Block drehen kann und außerdem ist da immer die Befürchtung, dass die Überflüssigen es irgendwann von heute auf morgen leid sein und alles hochgehen lassen könnten.“

Es gibt weltweit viele Menschen, „die keinen Platz in der Gesellschaft haben, die keine Funktion erfüllen, die es rechtfertigen würde, das sie existieren. Der Anteil der überschüssigen Bevölkerung ist nicht nur in Argentinien hoch, sondern weltweit: 1,4 Milliarden Menschen, die extrem arm sind, die von weniger als 1,25 Dollar am Tag leben, die hungern. Ein Fünftel der Weltbevölkerung. (…) Man weiß nicht, wie man aus ihnen einen Mehrwert ziehen kann, sie werden nicht gebraucht. (…) Sie sind, klarer Fall, ein Störfaktor: unnützer Ballast.“

In Indien sind die Arbeiterinnen in die Weltwirtschaft integriert, sie werden ausgebeutet, damit man in der ersten Welt billige Kleider kaufen kann. Jetzt hat man neue Verwendungsmöglichkeiten für die Überflüssigen entdeckt: wie indische Kliniken, die arme Frauen als Leihmütter unter Vertrag nehmen.

Das Kapitel endet wie folgt: „Es sind mehr als eine Milliarde: Sie überleben. Die reichen Länder machen in Afrika dasselbe wie der argentinische Staat in Argentinien: Sie geben den Überflüssigen das Allernotwendigste zum Überleben. Damit sie die schönen Seelen ja nicht in Angst und Schrecken versetzen und damit sie auch weiterhin glauben, ohne diese Hilfe seien sie noch schlechter dran. Damit sie ja nicht auf die Idee kommen, eigene Zukunftspläne zu schmieden und alles niederzubrennen. Ein System darf nicht so leichtsinnig seine Ressourcen vergeuden. Wenn es nicht lernt sie sinnvoll einzusetzen…“

Fortsetzung folgt…

Martin Caparros, Der Hunger, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2016, 4,50 Euro

Der Hunger Teil 1

Auch wer in Deutschland beständig rechnen muß und selbst schlecht ernährt ist, weil der Regelsatz für eine gute Ernährung nicht ausreicht, wer zu Lebensmittelausgaben gehen muß usw. Weltweit gesehen, gibt es in den meisten Ländern keine Reste eines Sozialstaates, der noch ein Mindesteinkommen garantiert. Gestern wurde eine OECD-Studie vorgestellt, wobei festgestellt wurde, dass die Steuerlast vor allem die Durchschnittsverdiener und die unteren Lohngruppen zu tragen hätten. Gleich meldete sich ein Wirtschaftsvertreter zu Wort, die Löhne sollten den hart arbeitenden Menschen zu gute kommen. Zugleich war von gesetzlichen Sozialausgaben die Rede, die die Steuern auffressen würden. Nichts wiederum von ausgesetzter Vermögenssteuer, Erbschaftssteuerreform zugunsten von Firmenerben, nichts von Senkung der Spitzensteuersätze, nichts von Steueroasen. Nichts von einer Forderung der Umverteilung von oben nach unten!

Folgendes Buch sollte Pflichtlektüre sein. Weltweit gibt es einen Kampf ums Überleben. „Ein ständiger Kampf um das ganz Unmittelbare, das Grundlegende. (…) Es ist nicht nur eine Beschneidung der materiellen Grenzen, auch der mentalen, eine Einschränkung der Vorstellungskraft. (…) Abertausende von Menschen, die jeden Tag aufstehen und sehen müssen, wie sie an Nahrung kommen. (…) Zukunft ist der Luxus derjenigen, die Nahrung haben.“ , so der Buchautor.

Das 841seitige Buch „Der Hunger“ des Schriftstellers und Journalisten Martin Capparos, geboren 1957 in Buenos Aires, ist ein zugleich erschreckendes und grandioses Werk. Der Autor mischt in seiner breit angelegten Darstellung Reportage, Kulturgeschichte, Essay und Streitschrift. Sein Bericht führt uns nach Niger, Indien, Bangladesh, in die USA, nach Argentinien, in den Südsudan und nach Madagaska.

„Dieses Buch ist ein Fehlschlag (…), weil eine Untersuchung des größten Versagens der Menschheit selbst nur scheitern kann (…) Aber manchmal lohnt sich das Scheitern.“, so endet der Autor in seiner Einleitung. Und: „Vom Elend zu berichten ist oft schon eine Form, es auszunutzen.“ Fremdes Unglück interessiert viele unglückliche Menschen, um sie selbst sei es nicht so schlecht bestellt. „Fremdes Unglück- Elend- ist nützlich, um zu verkaufen, zu verbergen, um Dinge durcheinanderzuwerfen: So lässt sich beispielsweise suggerieren, das individuelle Schicksal sei ein individuelles Problem.“

Aisha aus Niger wünscht sich eine Kuh. Als Martin Capparos sie fragt, aber was sie sich wünsche, wenn ein Zauberer ihr jeden Wunsch erfüllen würde, egal welchen. „Zwei Kühe vielleicht?“ sagt Aisha leise: „Dann müßte ich nie mehr Hunger leiden.“ Diese grausamste Art der Armut nimmt einem die Möglichkeit, sich ein anderes Leben auch nur vorzustellen. „Man ist zum Immergleichen, Unausweichlichen verurteilt.“ Jeder Gedanke wird vom Mangel beherrscht.

In der Erinnerung ist der Hunger ein Kind mit aufgeblähtem Bauch und dürren Beinchen. Surrende Fliegen. Das Bild wird zur Gewohnheit. Hunger gibt es dann in Zusammenhang mit Kriegen oder Naturkatastrophen. Aber es hungern täglich 800, 900 Millionen Menschen. „Jeden Tag sterben auf der Welt- dieser Welt- 25 000 Menschen an Ursachen, die mit dem Hunger zusammenhängen.“

Niger: Strukturen des Hungers

Acht von zehn Nigrern leben auf und vom Land. In vielen Ländern Afrikas sind 2/3 bis ¾ der Bevölkerung Bauern. Weltweit sind knapp eine Milliarde Menschen in der Landwirtschaft tätig.
In der Sahelzone wird Hunger als strukturelles, unabänderliches Problem gesehen. Brutal wird der Hunger in der Zeit, wenn die vorherige Ernte aufgebraucht ist und die nächste sich mühsam aus dem kargen Boden kämpft. Niger ist das Land mit den weltweit meisten Kinderbräuten, fast 50 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren sind in ihrem Wachstum stehengeblieben.

Ein Erwachsener hungert, wenn er täglich weniger als 2200 Kilokalorien zu sich nimmt, ein Kind weniger als 700 bis 1000. „Hunger ist ein Prozess, ein Kampf des Körpers gegen den Körper.“ Ein hungernder Körper zehrt sich auf.
Bürokraten benutzen eine Fachsprache. Fachbegriffe vermeiden jede Emotion. Die Bürokraten sprechen lieber von Fehlernährung, Unterernährung etc. „Chronisch unterernährt“ sind dann Menschen, die tagtäglich hungern. Wenn etwas passiert, findet der Hunger in die Medien. In Ausnahmesituationen. Aber Mangelernährung ist meist chronisch. Etwa ein Drittel der Weltbevölkerung, also etwa zwei Milliarden Menschen sind von ihr betroffen. Zwei Milliarden Menschen sind mangelernährt. Und wenn die Ärmsten essen, dann sind sie „fehlernährt“: Eisenmangel, Vitamin- A- Mangel, Jodmangel, Zinkmangel. Wenn sogar die Proteine und Kalorien fehlen, dann sind sie unterernährt. Besonders die Kinder sind betroffen, 60 Prozent der Hungernden sind Frauen. „Der schlimmste aller Teufelskreise: ausgemergelte Mütter, die unterentwickelte Kinder großziehen. (…) Jedes Jahr sterben mehr als drei Millionen Kinder an Hunger und Krankheiten- Husten, Durchfall, Röteln, Malaria-, die durch den Hunger begünstigt werden (…).“
„Drei Millionen Kinder, das sind mehr als 8000 am Tag, mehr als 300 pro Stunde, mehr als fünf in einer einzigen Minute.“

Warum das alles?

In Afrika hat es mit dem Sklavenhandel und den Plünderungen begonnen. „Als die afrikanischen Staaten in die Unabhängigkeit entlassen wurden, haben die Europäer mitgenommen, was sie tragen konnten.“ Seit den 1980er Jahren verschärfte sich die Situation, denn IWF und Weltbank „überredeten“ die Mehrzahl der afrikanischen Regierungen, staatliche Interventionen in bestimmten Bereichen, so der Landwirtschaft, zu reduzieren. Gebetsmühlenartig wiederholten Weltbank und IWF, der Markt werde die Lebensbedingungen verbessern. „Es war einer der größten Gewaltakte des Weltmarktes. Ohne eine Chance, ihre eigenen Produkte verkaufen zu können, verloren Millionen von Bauern in den ärmsten Ländern auch noch das Hemd, das sie nie hatten.(…) Über mehr als ein Jahrhundert war Afrika ein Nettoexporteur von Nahrungsmitteln gewesen, seit 1990 überwiegt der Import.“

„Eine klare Botschaft: Die Vereinigten Staaten und Europa bauen effizienter und günstiger Nahrung an, also sollten die Afrikaner- und andere arme Länder- ihre Finger von der Landwirtschaft lassen und arbeiten gehen, damit sie von ihrem Lohn die importierten Nahrungsmittel bezahlen konnten. Allerdings war noch nicht klar, wo sie arbeiten sollten. (…) Die Randgebiete der großen Städte füllten sich mit Arbeitslosen- und die Felder mit Landwirten ohne Land bzw. ohne ausreichende Mittel, um es zu bestellen. Zwei von drei Afrikanern sind immer noch Bauern.“

Ergebnis: „1970 gab es Schätzungen zufolge etwa 90 Millionen Unterernährte in Afrika. 2010 waren es bereits mehr als 400 Millionen.“

Niger hat eine Fläche von einer Million Quadratkilometern, aber nur 40 000 davon sind fruchtbar.
Im übrigen Land leben Wanderhirten mit zwanzig Millionen Tieren. Seitdem der IWF die Regierung gezwungen hat, den Markt für multinationale Konzerne zu öffnen, ist der Preis der Medikamente für Tiere um ein Vielfaches gestiegen. Viele Hirten haben daher ihre Herden verloren.

Der Währungsfonds zwang die Regierung in Niger ebenfalls, ihre Getreidelager aufzulösen, die als Notreserve für drohende Hungersnöte gedacht war.

Niger ist der zweitgrößte Uran- Förderer weltweit. Eine französische Gesellschaft baut Uran ab und zahlt dem Staat nur eine lächerliche Gebühr.

In der Sahelzone produziert ein Bauer je Hektar Ackerland 700 Kilo Getreide, das ist weniger als ein Bauer im Römischen Reich, ein amerikanischer Farmer schafft heute das 2000-Fache. Es sind karge Gegenden, da es nur für etwa vier Prozent der Anbaufläche Afrikas irgendeine Form von Bewässerung gibt. Und es sind besitzlose Gegenden. „Die meisten afrikanischen Bauern arbeiten ohne große Hilfsmittel, allein mit ihren Händen, ihren Beinen und einer Hacke.“ Und sie können nur innerhalb ihres Dorfes ihre Ernte verkaufen, da es an Straßen und Transportmitteln mangelt. Mit Dünger, Pflanzenschutzmitteln, Traktoren und Bewässerung sähe alles anders aus.

Die Anzahl der Menschen wächst schneller als die Getreidemenge. Und es gibt keine freien Flächen mehr, da vor vierzig Jahren der Regulationsmechanismus ausgehebelt wurde und das Land auf dem berühmten Markt verschachert wurde.

„Elend bedeutet, auf Messers Schneide zu leben. Jeder Sturz kommt einem Fall ins Bodenlose gleich.“ Es muß schon viel schieflaufen, bevor der Sohn eines Bauern das väterliche Grundstück verläßt. Die Frauen heiraten und ziehen zu ihren Ehemännern, das war es, wenn größere Katastrophen ausbleiben. Die Männer sind mobil. Der Arbeitslohn eines Feldarbeiters in Niger beträgt pro Tag vier Dollar, das sind 2000 Francs. In Nigeria können es bis zu 4500 Francs sein.
„Die Überweisungen der Migranten sind eine wilde Form der Umverteilung des Reichtums, verbunden mit einer noch wilderen Form von Ausbeutung. Arme erledigen in reicheren Ländern die Jobs, die die Menschen dort nicht machen wollen, und schicken Geld in ihre Heimatländer.
Laut Schätzungen der Weltbank haben die weltweit etwa 200 Millionen Migranten allein 2013 etwa 400 Milliarden Dollar in ihre Heimatländer überwiesen. In Niger arbeitet einer von dreißig Männern in Nigeria, Ghana, Benin oder der Elfenbeinküste: Sie schicken jedes Jahr 100 Millionen Dollar nach Hause. Viele bleiben; andere pendeln.“

Der Autor wurde in Niger krank, sechs Tage konnte er nichts mehr essen. „Nicht die Gesellschaft verweigert mir die Nahrung, mein Körper verweigert mir die Aufnahme.“ Nebel im Kopf.
Ihn beschleicht das Gefühl, mit dem wahren Elend in Berührung gekommen zu sein. „Nicht das Elend derjenigen, die am Rande der Gesellschaft der Reichen leben, sondern das Elend derjenigen, die dort leben, wo es nichts gibt…“

„Wie zum Teufel können wir weiterleben, obwohl wir wissen, dass diese Dinge geschehen?“, so der Autor.

Fortsetzung folgt

Martin Caparros, Der Hunger, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2016, 4,50 Euro