Klassenunterschiede innerhalb der Linken werden kaum thematisiert, oftmals werden sie unsichtbar gemacht. Die Soziologin Julia Roßhart hat diese in ihrem 574seitigen Buch, eine Dissertation, analysiert. In den 80er und 90er Jahre machten feministische Akteurinnen darauf aufmerksam, wie der Bewegungsalltag durch Klassenunterschiede geprägt wurde. Julia Roßhart versammelt in zwölf Kapiteln anti-klassistische Binneninterventionen der autonomen Frauen- und Lesbenbewegung. In sechs Kapiteln bezieht sich die Autorin auf „binnenkritische Interventionen im Kontext der BRD“, ergänzt durch „einen Blick auf Interventionen in Hochschule und Wissenschaft und auf anti-klassistische Denkanstöße aus anderen feministischen Bewegungskontexten (Niederlande, USA).“ Die meisten von ihr recherchierten Interventionen gingen von weißen, nicht- migrantischen und BRD-sozialisierten Akteurinnen(gruppen) aus. Die Wahl des Forschungsthemas hängt aufs Engste mit den eigenen Klassismuserfahrungen der Autorin zusammen, die sich vor allem auf Sprachnormen bezogen. Andererseits hatte sie ökonomische Privilegien. Und eine weiß privilegierte Perspektive.
Es geht nicht nur um ökonomische Unterschiede, zum Beispiel ökonomische Fortschreibungen von Klassenherkunft qua Erbschaften oder finanzieller Unterstützung. Die bürgerlichen FrauenLesben leben in dem Bewußtsein, dass sie abgesichert sind. Viele Mittelschichtslesben verbergen ihre ökonomischen Privilegien.
Auch Verhaltensmuster spiegeln den eigenen Status wider. Eine bestimmte Sprache und ein bestimmtes Auftreten signalisieren, daß jemand der herrschenden Klasse angehört. „Bürgerliche reden lange und viel, oft in wohlgeformten Sätzen, sie bestimmen den Tonfall.“ Auch in feministischen Bewegungen dominieren die Normen des Bildungsbürgertums. „Als Bestandteil des Klassenhabitus dient „guter Geschmack“ etwa in Bezug auf Essen, Kleidung oder Lebensstil als Abgrenzungs- und Abwertungsmechanismus von Seiten der privilegierten Klassen.“
Proletarische Frauen haben immer das Gefühl, ins Fettnäpfchen zu treten, etwas Falsches zu sagen, den Ton nicht zu treffen. Sie verleugnen z.B. an der Hochschule ihre Klassenherkunft, um nicht diskriminiert zu werden oder internalisieren die Herrschaftsverhältnisse. Sich selber runtermachen.
Die Prolo- Lesben hatten den Wunsch nach einer Abkehr vom „Bürgerlichen“ als Orientierung. Von ihnen wurden Umgangsformen, Sprache etc. verlangt, die sie nicht beherrschten. Sie wollten die Szenenormen aufknacken. Gefühle der Unterlegenheit und Minderwertigkeit wurden von ihnen als Folge bürgerlicher Normsetzungen politisiert. Die Prolo-Lesbengruppe I kritisiert, dass die Diskussion stark um Selbsterfahrung kreiste, aber kaum über die Ursachen der Klassenunterschiede geredet wurde. Die Proll-Lesbengruppe II weist daraufhin, dass zum Zeitpunkt ihres Bestehens (1990-92) Selbsterfahrung in feministischen Zusammenhängen als „out“, unpolitisch und unwissenschaftlich galt. Die Lesbengruppen leisteten vor allem Biographiearbeit, sie tauschten biographische Erfahrungen aus und stellten klassenbedingte Parallelen (und Unterschiede) fest. Dabei wiesen Aktivistinnen auf massive ökonomische Unterschiede aufgrund von Klassenherkunft hin, die sich auf Lebensbedingungen, Pläne und Sicherheitsempfinden auswirkten. Die Selbsterfahrungs-, Aufklärungs- und Veränderungsarbeit bleibe an denjenigen hängen, die von Diskriminierung betroffen sind.
Zwei Jahre gab es ein Umverteilungskonto, auf das (vergleichsweise) reiche Lesben bzw. Lesben aus der Mittelschicht einzahlten und arme Lesben Geld abhoben, und zwar anonym, weil die Offenlegung persönlicher Armut oft zu unangenehm ist. Die Gruppe wollte praktisch aktiv werden und „nicht mehr abgehoben über Klassen sprechen“.Es sei nämlich „absurd: jede steht mit Geldbeschaffung alleine da- aber hochtrabende Diskussionen“. Das Konto war auf die eigene Community begrenzt. Viele Mittelschichtslesben hätten ihre ökonomischen Privilegien verdeckt und spielten Armut „mit einem Bankkonto im Hintergrund“.
Der afro-karibisch- amerikanischen Dichterin, Aktivistin und Autorin Audre Lorde ist ein Kapitel gewidmet. Nach dem Mauerfall rücken in der weiß dominierten Frauen-/ Lesbenbewegung rassistisch deprivilegierte Gruppen in den Fokus. Es verstärken sich die Auseinandersetzungen um Rassismus. Audre Lorde sensibilisierte im Zuge ihrer Berlinaufenthalte für das Thema. Sie kritisierte auch die Ignoranz von Seiten weißer akademischer Frauen, die es erlaubt, feministische Theorie zu produzieren, ohne Beiträge „mittelloser, Schwarzer, Dritter Welt- und lesbischer Frauen“ einzubeziehen. „Wenn weiße feministische Theorie meint, sich nicht mit den Unterschieden zwischen uns beschäftigen zu müssen und mit den sich daraus ergebenden Unterschieden unserer Unterdrückung, wie geht ihr dann mit der Tatsache um, daß Frauen, die eure Wohnungen putzen und auf eure Kinder achtgeben, während ihr an Konferenzen über feministische Theorie teilnehmt, vorwiegend mittellose Frauen und `women of color` sind.“ (Audre Lorde) Lorde weist daraufhin, dass aus marginalisierten Positionen Erfahrungswissen herauswachse.
Ein Kapitel ist dem 1993 veröffentlichten Text „Eine neue bürgerliche Frauenbewegung?“ von Ilona Bubeck gewidmet. Sie kritisiert darin die Verabschiedung von der Praxis des sogenannten „Einheitslohnes“. Unterschiedliche berufliche Möglichkeiten wurden so individualisiert und entpolitisiert. Ilona Bubeck verweist auch auf das gewollt. „abgewrackte Aussehen“ als Norm in der Lesbenszene, womit Klassenunterschiede unsichtbar und zugleich hergestellt würden. „Unterschiede untereinander (werden) weggewischt und gleichzeitig die zu anderen Frauen verdeutlicht.“ Während den einen „verarmtes Aussehen verhaßt sei“, können sich die Mittelschichtsfrauen entscheiden, sich arm zu kleiden. „Gerade diejenigen, die sich vom bürgerlichen Elternhaus abgrenzen wollen, werfen den anderen Bürgerlichkeit vor.“ Es sei eine aufgesetzte „Abwärts-Mobilität“ von Seiten klassenprivilegierter Lesben.
Auch die radikalfeinistische Lesbenzeitschrift Ihrsinn befasste sich mit der Klassenfrage. Schreiben sei ein Klassenproblem. Das Umlernen von Sprache bedeutet für ArbeiterInnentöchter an der Hochschule Entfremdung und gefühlter Klassenverrat.
Auch die afro-amerikanische Aktivistin und Autorin bell hooks wird in dem Buch gewürdigt. Nach Audre Lorde seien Feministinnen nicht per se Verbündete für beispielsweise arme Frauen und Arbeiterinnen, sondern sie werden erst durch den gemeinsamen Kampf gegen kapitalistische Klassenverhältnisse zu Verbündeten. Bell hooks verbindet sowohl Binnenkritik auf Bewegungsebene und Kapitalismuskritik miteinander. Ein Feminismus, der den (Klassen-) Interessen weißer ökonomisch privilegierter Frauen dient, hat einen Preis, den andere Frauen zu zahlen haben. Die Zielsetzung, Erwerbstätigkeit und Karriere zu ermöglichen, sei typisch für klassenprivielegierte Frauen. Arme Frauen und Arbeiterinnen erlebten Lohnarbeit weniger als Befreiung denn als Ausbeutung. Bell hooks setzt auf einen marginalisierten, „revolutionären“, „radikalen“, „visionären“ Feminismus, der auf eine Umverteilung des Reichtums abzielt.
In dem Buch wird auch auf die Akademisierung des Feminismus verwiesen. Der Zugang von klassenprivilegierten FrauenLesben zum Hochschulstudium hat sich grundlegend verbessert. Es herrsche aber ein Anpassungsdruck an den Hochschulen, die die Arbeiterinnenherkunft zum Verschwinden bringe. Die nicht Bürgerlichen erleben Sprachlosigkeit, Nervosität, diffuse Ängste, Selbstzweifel, Gefühle von Inkompetenz und Fremdheit, Redehemmungen, Unsicherheiten. Es gebe einen Druck, so zu werden wie die anderen.
„Die Herstellung und Ablehnung der Arbeiter*innenklasse als nicht intelligent, akademisch unfähig und so weiter ist die zentrale Lüge, auf der die Gemeinschaft der Subjekte innerhalb der Akademie basiert, die nichts miteinander gemein haben außer ihrem Glauben daran, dass die Arbeiter*innenklasse weniger intelligent ist als sie selbst. Diese Ablehnung ist entscheidend, um zu verstehen, warum Frauen mit Arbeiter*innenhintergrund ihren Arbeiter*innenklasse-Körper zusammen mit ihrer Sprache, ihrem Verhalten und ihren Handlungen aus dem akademischen Kontext ausschließen.“
Die Arbeiter*innenklasse wird an der Hochschule zum Verschwinden gebracht.
Anja Meulenbelt thematisiert, wie Herrschaftsverhältnisse qua Sozialisation reproduziert werden, wie sich Klassenunterschiede in Personen einschreiben: in ihr Verhalten, in Wahrnehmungen, Werte, Lebensvorstellungen… So beschreibt sie unterschiedliche Klassenerfahrungen von Frauen in Kindheit und Jugend, wobei „verinnerlichte Herrschaft und Unterdrückung“ Schlüsselbegriffe sind. Ihr Schwerpunkt ist die Sozialisation: „(…)wie wir geworden sind, was wir sind, wie wir die Normen der herrschenden Gruppe übernommen haben, wie wir die Unterdrückung verinnerlicht haben.“ Sie beschreibt Entfremdungsängste und -erfahrungen beim Klassenaufstieg (beispielsweise an der Universität). Sie weist auf einen Mangel an „Zukunftserwartungen“ hin, „als Folge begrenzter Gestaltungsmacht über das eigene Leben und als Folge mangelnder Vorbilder.“
Sie konstatiert, dass die intensiven frühen feministisch- sozialistischen Klassendiskussionen der 1970er Jahre sich eher einseitig mit Klasse auf einer „abstrakten theoretischen Ebene“ befasst haben: „Von lebendigen Menschen handelte die Debatte nicht.“
„Die Klasse bestimmt dein Verhalten und deine grundsätzlichen Lebensauffassungen (…), was du von dir und von anderen erwartest, deine Zukunftsvorstellungen, wie du Probleme erlebst und sie verarbeitest, wie du denkst, fühlst und handelst.“
Frauen-Lesben mit (eher) deprivilegierten Klassenherkünften artikulieren Erfahrungen sprachlicher Diskriminierung, werden z.B. „gehänselt“, beschreiben Schamgefühle, Armutserfahrungen oder den berufsbedingten Mangel an elterlicher Aufmerksamkeit.
„Menschen aus höheren Klassen haben meist gelernt, daß ihre gesellschaftliche Stellung ihnen zusteht. Ihre Privilegien empfinden sie nicht als Vorrecht, sondern sie glauben, diese verdient zu haben. Die Vorteile einer höheren Klassensozialisation sind die Leichtigkeit, sich in Gesellschaft zu bewegen, die Sprache zu sprechen, die einem die Türen öffnet, keine Angst im Umgang mit Autoritäten zu haben.“
Bürgerliche Feministinnen gehen davon aus, das z.B. bezogen auf die Bewertung von Lohnarbeit ihre Forderungen für alle Frauen gelten.
Klasse war kein großes binnenkritisches Thema in der feministischen Bewegung der 1980er und 1990er Jahre, aber es war Thema.
Julia Roßhart, Klassenunterschiede im feministischen Bewegungsalltag, Anti-klassistische Interventionen in der Frauen- und Lesbenbewegung der 80er und 90er Jahre in der BRD, Berlin 2016